«Am Ende ist es immer der Mensch, der dem anderen die Hand reicht»

Sind wir von kulturellen Vorurteilen geprägt? Was bedeutet eigentlich Kultur? Und weshalb unterliegt sie einem stetigen Wandel? Der Weiterbildungstag 2025 in der Schützi Olten lieferte Antworten – und neue Denkanstösse.
Über 80 neugierige Freiwillige pilgerten am Dienstag, 1. April 2025 aus allen Ecken der Deutschschweiz ins Eventlokal Schützi in Olten. Dort empfing sie das Team von Pro Pallium zum jährlichen Weiterbildungstag. Diesmal im Fokus: Kulturen – und wie wir ihnen begegnen. Unter dem Motto «Andere Länder – andere Sitten» sollten die Teilnehmenden ihre eigenen kulturellen Kompetenzen schärfen, Vorurteile gegenüber anderen Kulturen erkennen, verstehen und richtig damit umgehen. Diese Thematik ist für die Freiwilligeneinsätze von Pro Pallium von grosser Bedeutung, da die Stiftung zahlreiche Familien mit Migrationshintergrund begleitet.
«Im Vordergrund steht die Begegnung.»
Rahel Siegenthaler

Wie prägt uns die eigene Geschichte?
Durch den Morgen führte Rahel Siegenthaler, Schulleiterin und interkultureller Coach, Beraterin und Trainerin für Unternehmen und Bildungsinstitute. Durch ihr Referat führte sie mit Fragen wie «Wie nehme ich meine eigene Umwelt wahr?», «Inwiefern prägt mich meine eigene Kultur?», oder «Wozu brauche ich eigentlich eine interkulturelle Kompetenz?». Ziel des Morgens war, kulturelle Unterschiede besser zu verstehen und kompetenter damit umzugehen. Das Gehörte vertieften die Freiwilligen in mehreren kurzen Gruppenarbeiten, wo sie ihre Erfahrungen miteinander teilten. So berichteten die einen etwa von herausfordernden Erlebnissen in Familien mit besonderen, hierarchischen Strukturen, welche im Gegensatz zur eher egalitären Lebenswelt in der Schweiz stehen. Im Plenum diskutierten die Teilnehmenden gemeinsam mit Rahel Siegenthaler ihre Erfahrungen. «Interkulturelle Kompetenz bedeutet immer ein Geben und Nehmen sowie eine gemeinsame Verständigung zu suchen, indem man sich seiner eigenen Prägung bewusst ist und offen auf das Fremde zugeht», fasste Siegenthaler den Morgen zusammen – und schloss mit den Worten von Andrea Lanfranchi: «Wissen über Kulturen und Informationen über ethnische Unterschiede sind wichtig und gleichzeitig unwichtig. Im Vordergrund steht nämlich die Begegnung.»
Zwischen den Kulturen

Am Nachmittag lud Regionalleiterin Ulrike Bohni zum interkulturellen Podiumsgespräch. Zu ihren Gästen gehörten zum einen Dr. Fana Asefaw, Kinder- und Jugendpsychiaterin sowie Brückenbauerin im Bereich der interkulturellen Vermittlung. Neben ihr nahm Meharin Kifle Platz, der fünffache Vater ist 2007 von Eritrea nach Europa geflüchtet und lebt seither in der Schweiz. Mehari Kifles Tochter Yasmin verstarb nach einem Hirntumor. Die Familie wurde während der Krankheit und auch nach dem Tod des Kindes von Pro Pallium begleitet.

Ebenfalls an der Gesprächsrunde Teil nahm Roger Berger, er ist seit 2019 freiwillig für Pro Pallium tätig und hat in dieser Zeit eine kongolesische Familie begleitet, welche zwei Kinder verlor. Die vierte Person in der Gesprächsrunde war Zahra Wehbi. Die Libanesin lebt seit 2013 in der Schweiz und ist Mutter zweier schwerkranker Töchter. Begleitet wird ihre Familie durch eine Freiwillige von Pro Pallium.

«Es ist sehr individuell, ob sich jemand irgendwo beheimatet fühlt.»
Fana Asefaw
Sehr persönlich sprachen die Podiumsteilnehmenden über ihre Lebenssituationen, Erfahrungen, und über die verschiedenen Formen der Trauer nach dem Tod eines Kindes. Weiter gingen sie der Frage nach, wie eingewanderte Familien in der Schweiz empfangen wurden – sowohl im ländlichen als auch städtisch geprägten Umfeld. So hielt etwa Meharin Kifle fest: «Trotz einiger Anfangsschwierigkeiten und misstrauischen Blicken ist die Schweiz für mich eine zweite Heimat geworden. Der Rückhalt aus unserem Dorf für meine Familie war und ist sehr gross.» Zahra Wehbi sagt, in der Schweiz habe sie Frieden gefunden und könne Krieg und Zerstörung endlich hinter sich lassen. Zudem biete dieses Land bessere Möglichkeiten zur Behandlung ihrer kranken Kinder. Doch obwohl ihre Familie mit offenen Armen und viel Hilfsbereitschaft im Dorf empfangen wurde, hänge sie bis heute zwischen den Kulturen fest. Sie fühle sich nirgends vollends zugehörig. Dazu ergänzt Fana Asefaw: «Es ist sehr individuell, ob sich jemand irgendwo beheimatet fühlt.» Wichtig sei es, anderen Menschen – ganz besonders von Krankheit betroffenen – mit Menschlichkeit zu begegnen. «Denn am Ende ist es immer der Mensch, der dem anderen die Hand reicht.»
«Interkulturelle Kompetenz lässt sich als die Fähigkeit definieren, individuelle Lebenswelten in der besonderen Situation und in unterschiedlichen Kontexten zu erfassen, zu verstehen und entsprechende, angepasste Handlungsweisen daraus abzuleiten.»
(Dagmar Domenig, Stiftungsrätin Pro Pallium)
Eindrücke zum Tag

Anna Düll, Freiwillige: «Fast jeder von uns hat gewisse Vorurteile anderen Kulturen gegenüber, auf welche wir heute wieder sensibilisiert wurden. Beeindruckt hat mich auch die Erkenntnis, dass einige Verhaltensweisen bestimmter Kulturen auch andere Hintergründe haben können, als wir selbst mit unseren westlichen Denkmustern interpretieren.»
Mirco D’Incau, Freiwilliger: «Wenn wir einem Menschen ohne Vorurteile und mit Offenheit für sein Leben begegnen, ist das ein Mehrwert für uns persönlich und wir stärken zugleich unsere interkulturelle Kompetenz.»


Rahel Siegenthaler, Referentin: «Kulturelles Wissen über Unterschiede ist wichtig. Die Offenheit und die Beziehung zu einem Menschen bleiben das Wichtigste in der Begegnung.»