Tanz zurück ins Leben

Die Geschichte von Josh und Pascale

Josh ist eine Frohnatur, ein Energiebündel und vor allem: ein Kämpfer. Denn der 7-Jährige hat nach einem schwierigen Start den Weg zurück ins Leben gefunden – und aufs Tanzparkett.

Eingespieltes Team: Pascale Duquesne und Josh Müller

Joshs Rückkehr vom Kindergarten kündigt sich schon von Weitem an: Lauthals rufend wirbelt der 7-Jährige mit erhobenen Armen über den öffentlichen Quartierspielplatz auf den ebenerdigen Balkon. Dort nimmt ihn Pascale Duquesne, freiwillige Mitarbeiterin von Pro Pallium, in Empfang. Lautes Gelächter ist zu hören, bevor der quirlige Junge mit grossen Schritten ins Wohnzimmer flitzt. Jetzt brauchts erst einmal eine grosse Umarmung von Mami Claudia Müller, ein Guetzli und einen Schluck Wasser. Denn Josh hat heute noch einiges vor: Gemeinsam mit Pascale fährt er zum ersten Mal in die Nachbarsgemeinde Wollerau zum Breakdance-Training. Die Nervosität und Vorfreude stehen dem aufgeweckten Buben ins Gesicht geschrieben – bald fährt der Bus, den die beiden noch erwischen wollen. Dennoch bleibt noch kurz Zeit, um uns Einblick in sein Kinderzimmer zu gewähren. Hier offenbart sich seine erste und grösste Leidenschaft: Ein Piratenschiff reiht sich ans nächste, umzingelt von Haifischen, Seemanns-Figuren und einer Playmobil-Schatzinsel.  Hier taucht Josh regelmässig ein in die wildesten Seeräuber-Abenteuer.

In seinem Element: Josh und seine Piratenschiffe im Spielzimmer.

«Ab dem Moment, als Yannik in meinen Armen starb, haben wir einfach nur noch funktioniert.»

Rückblick

Joshs Ankunft auf dieser Welt ist ganz leise. Nur 760 Gramm schwer wird er in der 29. Schwangerschaftswoche mittels Notkaiserschnitt auf die Welt geholt – viel zu früh. «Josh bewegte sich nicht und gab keinen Ton von sich», erinnert sich seine Mutter. «Auch um seinen Zwillingsbruder Yannik, der mit 1230 Gramm zwar schwerer und grösser war, stand es nicht gut.» Ein Tag nach der Geburt hört sein Herz, das den neuen Umständen nicht gewachsen ist, auf zu schlagen. Fünf Stunden lang wird er reanimiert, erfolglos. «Ab dem Moment, als Yannik in meinen Armen starb, haben wir einfach nur noch funktioniert», erinnert sich Claudia Müller.

Können heute viel gemeinsam lachen: Claudia Müller und ihr Sohn Josh.

«Wir sind quasi bei Minus gestartet.»

Bei der 43-Jährigen wurde noch während der Schwangerschaft eine Plazenta Praevia und das Fetofetale Transfusionssyndrom diagnostiziert, ein seltenes Krankheitsbild, das bei eineiigen Zwillingsschwangerschaften auftreten kann. Hierbei treten abnorme Gefässverbindungen auf der Plazenta auf, die eine gefährliche Blutverschiebung von einem Fetus zum anderen verursachen. Das heisst, dass ein Fetus schlechter mit Blut versorgt wird, während der andere zu viel Blut erhält. Bereits in der 23. Schwangerschaftswoche wurde Claudia Müller notfallmässig in die Frauenklinik gebracht, wo sie bis zur Geburt sieben Wochen später bleiben musste. Insgesamt fünf Mal lag sie in dieser Zeit wegen frühzeitiger Blutungen im Operationssaal – beim fünften Mal entschied man, die Zwillinge zu entbinden. «Wir sind eigentlich schon bei Minus gestartet und mussten trotzdem immer wieder genug Kraft aufbringen. Kraft für all die Prüfungen, die noch auf uns warteten.»

Was ist eine Plazenta Praevia?

Bei einer Plazenta Praevia liegt oder sitzt die Plazenta nicht wie üblich im oberen Bereich der Gebärmutter, sondern über dem Gebärmutterhals. In seltenen Fällen kann es vorkommen, dass sich die Plazenta von der Gebärmutter löst und damit die Blutversorgung des Kindes gestört wird. Zudem können während der Geburt Risse und damit starke Blutungen im Geburtskanal entstehen.

Ein langer Kampf

Ohne seinen Zwillingsbruder kämpft Josh auf der Neonatologie weiter. Drei Monate lang liegt er auf der Neonatologie, muss aufgrund seiner fehlenden Lungenreife künstlich beatmet werden. Er erleidet eine Hirnblutung und Nierenversagen. Schliesslich müssen auch noch Leistenbrüche auf beiden Seiten operiert werden. Der zweite Eingriff führt zu einem schweren Infekt, Josh wird auf die Intensivstation verlegt. Nach langsamer Genesung folgen weitere Monate im Kinderspital Zürich. Schliesslich wird bei ihm das seltene Beckwith-Wiedemann-Syndrom diagnostiziert (siehe Box). Für seine Familie steht die Welt still – und dreht gleichzeitig weiter, viel zu schnell. Claudia und ihr Mann Stefan müssen funktionieren. Nicht nur für Josh, auch für seine 14 Monate alte Schwester Yara. Doch als die Familie nach rund einem halben Jahr endlich zu Hause vereint ist, kehrt keine Ruhe ein. Josh wird von weiteren Infekten heimgesucht, darunter etwa das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV), das den Atemtrakt befällt und vor allem für Neugeborene gefährlich werden kann. Der Junge muss erneut ins Spital, insgesamt sind es vier Mal.

Das Beckwith-Wiedemann-Syndrom

Das Beckwith-Wiedemann-Syndrom (BWS) ist eine seltene genetische Erkrankung, die durch ein überdurchschnittlich schnelles und grosses Wachstum von Körperteilen und Organen sowie eine Fehlregulation der Gene auf dem Chromosom 11 verursacht wird. Es ist gekennzeichnet durch Merkmale wie etwa überdurchschnittliches Geburtsgewicht und Körpergrösse, eine vergrösserte Zunge, vergrösserte Organe und das Auftreten von Nabelbruch oder angeborene Bauchwanddefekte. Betroffene haben ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Tumoren im frühen Kindesalter, insbesondere sogenannte Wilms-Tumoren (Nierentumoren) und Hepatoblastome (Lebertumoren). Die Ausprägung der Symptome kann stark variieren.

«Man müsste sich eigentlich zweiteilen.»

«Wir blicken auf einen langen und sehr steinigen Weg zurück», berichtet Claudia Müller –bis zu seinem siebten Geburtstag musste Josh alle drei Monate Ultraschall- und Blutuntersuchungen auf der Onkologie-Abteilung, der Nephro- Endo-, Gastro- und Pneumologie über sich ergehen lassen. Josh erlernte das Laufen erst mit 2,5 Jahren. «Unseren Sohn im Alltag zu unterstützen und gleichzeitig seiner Schwester genügend Aufmerksamkeit zu geben, war und ist für mich immer wieder eine immense Herausforderung», erklärt die gelernte Kauffrau, die aufgrund der Diagnose ihres Kindes eine berufliche Pause einlegen musste. «Man müsste sich eigentlich zweiteilen.» Dank Pascales Besuchen könne Sie ihren beiden Kindern wieder ein Stück mehr gerecht werden und zum Beispiel einmal bewusst «Mami»-Zeit mit Yara verbringen. Sie finde aber auch kleine Verschnaufpausen ganz für sich allein, wo sie mal Schwimmen gehen oder ein Buch lesen könne. Obwohl sie bis heute immer wieder Mühe damit habe, sich diese Auszeiten zu gönnen: «Ich habe das Gefühl, ununterbrochen für die Kinder da sein zu müssen – auch, weil ich es für Yannik nicht genügend konnte. Und auch, weil Josh so lange im Spital lag und Yara aufgrund dieses schwierigen Starts sehr viel fremdbetreut werden musste.» Wenn Claudia diese Zweifel plagen, helfen manchmal die gemeinsamen Gespräche mit Pascale, etwa über den Verlust ihres Sohnes und den Umgang mit bestimmten Fragen von Mitmenschen. «Pascale wie auch Pro Pallium geben uns ein Gefühl von Geborgenheit und das Wissen, dass wir nicht allein sind. Das ist sehr heilsam.»

Offene Fragen

Heute leidet Josh an einer chronischen Nierenerkrankung, einer Schilddrüsenunterfunktion und einer zerebralen Lähmung. Alle sechs Monate müssen seine Werte im Kinderspital kontrolliert werden. Wöchentlich besucht er zudem die Physio- und Ergotherapie, um seine geschwächte Muskulatur aufzubauen und sein Körpergefühl sowie bestimmte Bewegungsabläufe zu trainieren. Dort lernt er auch, einfache Tagesabläufe zu bewältigen und seine Selbstständigkeit – etwa beim Zählen oder Schuhe schnüren – zu trainieren. Der aufgeweckte Junge lebt mit einer kognitiven Beeinträchtigung, deren Ausmass noch nicht gänzlich klar ist. Trotzdem besucht er während fünf Tagen in der Woche den örtlichen Kindergarten, nur einen Steinwurf von Familie Müllers zu Hause entfernt. Hier profitiert er von einer integrierten Sonderschulung mit heilpädagogischem Support. In diesem Setting wird Josh ab kommenden Sommer auch die erste Klasse besuchen. «Darauf freut er sich sehr», weiss seine Mama. «Wir wissen noch nicht, wie sich alles entwickeln wird, aber wir versuchen, einen Tag nach dem anderen zu nehmen.»

In eine andere Welt

Für den kleinen Wirbelwind zählt im Moment aber sowieso nur noch eines: Pünktlich den Bus erwischen, um ja nicht zu spät ins Training zu kommen. So packen er und Pascale Duquesne gemeinsam seinen blauen Rucksack und brechen auf zur Bushaltestelle. Dort sitzen weitere Kinder aus dem Quartier, die Josh lebhaft begrüssen, denn der kontaktfreudige Junge ist ein beliebter Spielgenosse in der Nachbarschaft, wie seine Mutter uns kurz zuvor verraten hat. Im Bus windet sich der Junge ungeduldig auf dem Stuhl hin und her: «Bist du sicher, dass wir im richtigen Bus sitzen?», fragt er seine Begleiterin. Diese versucht zu besänftigen: «Keine Sorge, wir kommen ganz sicher pünktlich an.» Pascale Duquesne begleitet Familie Müller seit sechs Jahren als freiwillige Mitarbeiterin – alle zwei Wochen besucht die 56-Jährige Josh und seine Schwester Yara zum gemeinsamen Spielen oder holt sie auch mal auf einen Ausflug ab, etwa ins Verkehrshaus oder den Kinderzoo in Rapperswil. «Manchmal unternehmen wir alle drei etwas gemeinsam, manchmal verbringe ich auch allein mit Josh oder Yara Zeit.»

Ein bisschen aufgeregt: Josh reist zum ersten Mal mit dem Bus in die Breakdance-Stunde.

«Die Besuche holen mich aus dem Alltag hinaus in eine andere Welt – das ist für mich sehr bereichernd.»

Künftig reist die diplomierte Pflegefachfrau nun jeden Montag von Jona nach Pfäffikon, um Josh nach dem Kindergarten in Empfang zu nehmen und mit ihm ins Breakdance-Training zu fahren.  «Ich geniesse meine Zeit bei Familie Müller sehr», berichtet Pascale. «Die Besuche holen mich aus dem Alltag hinaus in eine andere Welt – das ist für mich sehr bereichernd.» Lächelnd blickt sie zu Josh hinüber, dessen Zweifel noch nicht gänzlich aus dem Weg geräumt scheinen. In Wollerau angekommen springt er aufgeregt aus dem Bus.

«Hier geht’s lang», zeigt Pascale den Weg und die beiden brechen schnellen Schrittes in Richtung Tanzschule auf. Dort treffen wir fünf Minuten später als erste ein. Es bleibt also Zeit, bereits einige Moves wie etwa «Babyfreeze», «Back Spin» und «Six Step» zu üben, während allmählich weitere Schüler und schliesslich Tanzlehrer Julian eintreffen. Um 17 Uhr geht’s los mit einem kurzen Aufwärm-«Fangis», dann stellt sich die rund 12-köpfige in Reihen auf und das Training beginnt – Josh ist mit gutem Rhythmus-Gefühl und vollem Körpereinsatz dabei. Dabei wandert sein Blick immer wieder nach hinten in die Zuschauer-Kabine. Pascale winkt ihm dann vertrauensvoll zu – und in Joshs Gesicht breitet sich ein stolzes Lächeln aus.