Stiller Schaffer am Krankenbett

Nachgefragt bei Seelsorger Kaspar Junker

Kaspar Junker ist Seelsorger und Teil des Care Teams in der Kinderklinik des Berner Inselspitals. Weshalb ihn dieser Beruf oft mit «leeren» Händen ins Behandlungszimmer führt und welche Begegnungen ihm bis heute geblieben sind, darüber spricht er im Interview.

Kaspar Junker (37) ist Teil des 10-köpfigen Care Teams des Berner Inselspitals.

Kaspar Junker, weshalb sind Sie Spitalseelsorger geworden?
Weil es so sinnvoll und nahe am Leben ist. Ich bin in einem kirchennahen Umfeld aufgewachsen und interessierte mich schon immer für Lebensgeschichten. Fürs Theologiestudium entschied ich mich, weil es ein sehr vielseitiges und breit aufgestelltes Studium ist. Während dieser fünfjährigen Ausbildung entschied ich mich dazu, die praktische Ausbildung zum Pfarrer, das Vikariat, in Angriff zu nehmen. Als solcher habe ich mich zuerst im Gemeindepfarramt in Bern Bethlehem engagiert und erste seelsorgerische Aufgaben wahrgenommen. Da merkte ich, dass genau dieser Teil meiner Arbeit – die unmittelbare Begegnung und die Gespräche mit den Menschen – das ist, was mich erfüllt und mir auch liegt. Mein nächster beruflicher Schritt war deshalb eine Stelle als Gefängnisseelsorger in Biel. Seit sieben Jahren bin ich nun Seelsorger und Teil des Care Teams des Inselspitals, die letzten beiden davon mit Schwerpunkt Kinderklinik.

Was sind dabei Ihre Aufgaben?
Das ist genau das spannende für mich: Eine ganz genau definierte und messbare Aufgabe habe ich als Spitalseelsorger nicht. Und trotzdem habe ich natürlich eine Aufgabe: Menschen in Krisensituationen zu begleiten und dabei das Augenmerk auf seelisch-spirituelle Anliegen zu setzen. Das heisst vereinfacht gesagt, dass wir Menschen in sehr schwierigen Situationen ein offenes Ohr und Gespräche für ihre Nöte, Bedürfnisse und Anliegen bieten – oder auch ohne Worte einfach präsent sind – und mit ihnen diese Krisenmomente «durchstehen» und, wenn gewünscht, auch rituell gestalten.

Wie darf man sich dies konkret vorstellen?
Zum Beispiel begleitete ich vor einiger Zeit eine Familie mit vier Kindern, deren jüngstes Kind im Spital verstarb. Gemeinsam mit den Eltern und Geschwistern haben wir den Abschied von ihrem Sohn und Bruder gestaltet, jeder durfte auf seine Weise und nach seinen Wünschen teilhaben und sich einbringen. Wir haben zusammen ein Herz aus Holz gestaltet, das die Geschwister ins Spitalbett legten. Dann haben wir das Gute-Nacht-Lied der Familie gesungen und ein Gebet gesprochen. Später segneten wir den verstorbenen Jungen: Alle Familienmitglieder salbten ihn mit etwas Öl ein. Es war eine traurige und berührende Situation.

Mit welchen Fachkräften des Spitals stehen Sie in regelmässigem Austausch?
Ich bin am wöchentlichen PPC-Rapport dabei, dem Austausch des Pädiatrischen-Palliative-Care-Teams. Dort nehmen auch alle anderen psychosozialen Dienste sowie die Vertreterinnen und Vertreter der Medizin und Pflege teil. Diese interprofessionellen Treffen sind für mich aufschlussreich und gewinnbringend, unterschiedliche Perspektiven treffen aufeinander mit dem Anliegen, die Patientin und ihr soziales Umfeld bestmöglich zu begleiten. Mir hilft insbesondere auch der direkte Austausch mit den Pflegenden, denn sie sind oft am nächsten bei den Betroffenen und haben oft ein gutes Gespür dafür, wer von der Seelsorge profitieren könnte, oder können uns hilfreiche Hinweise geben.

«Ich finde es wichtig, Dinge proaktiv anzusprechen und nicht davon auszugehen, dass Kinder von sich aus Fragen stellen.»

Wie gehen Sie auf die Bedürfnisse der kleinen Patientinnen und Patienten ein, die in der Kinderklinik behandelt werden?
Das ist eine gute Frage. Wir arbeiten tendenziell eher mit den Eltern, weil sie in aller Regel die wichtigsten Bezugspersonen der Kinder sind. Sie sind es, die ihnen Orientierung, Sicherheit und Halt geben. Aus diesem Grund versuchen wir, die Eltern zu stützen und darin zu coachen, wie sie ihr Kind am besten unterstützen können. Es geht darum, die wichtigsten Bezugspersonen der Patientinnen und Patienten zu befähigen. Je nach Situation kommunizieren wir aber natürlich auch mit den betroffenen Kindern, Jugendlichen und ihren Geschwistern direkt – dazu braucht es ein gewisses Verständnis für Kommunikation mit unterschiedlichen Altersgruppen. Wichtig ist aber auf jeden Fall immer Klarheit und Verständlichkeit: Wir holen das Kind dort ab, wo es steht.

Können Sie dazu ein Beispiel nennen?
Ich finde es wichtig, Dinge proaktiv anzusprechen und nicht davon auszugehen, dass Kinder von sich aus Fragen stellen. Zum Beispiel hatten wir einmal die Situation nach einem schweren Unfall, bei welchem über längere Zeit unklar blieb, ob das Kind überlebt oder nicht. Das Geschwisterkind war sehr still, nahezu paralysiert. Ich habe es dann gefragt, was ihm jetzt guttun würde, zu Hause und in der Schule. So hat mir der Junge erzählt, dass er ein schlechtes Gewissen habe, wenn er in der Schule Spass habe oder manchmal noch mit Freunden chille. Für mich ging es deshalb darum, seine Eltern darin zu bestätigen, ihr Kind zu ermutigen, dass es genau jetzt wichtig sei, gewohnte Strukturen und Freundschaften zu pflegen und zu geniessen. Kindertrauer kann, bildhaft gesprochen, verstanden werden als das Hüpfen von einer Pfütze in die nächste: Ein Kind ist traurig und weint und gleich darauf spielt es Fussball und die Welt besteht aus diesem einen Fussballspiel. Dieser Wechsel ist gesund und trägt zum seelischen Heilungsprozess und zur Verarbeitung des Geschehenen bei.

«Ein grosser Teil unseres Jobs ist das gemeinsame ‹Aushalten›, das aktive Zuhören – vorbehaltlos und nicht wertend.»

Welche Herausforderungen begegnen Ihnen im Alltag?
Neben den oft schwierigen Schicksalen von Kindern und deren Angehörigen ist eine Herausforderung für mich, dass ich als Seelsorger nur sehr punktuell für Familien da bin. Ich bin sehr intensiv über einen gewissen Zeitraum dabei – danach muss ich wieder loslassen. Manchmal ist es auch schwierig für mich, mit «leeren» Händen in eine Krisensituation heranzutreten. Wir sind keine Ärztinnen, Pfleger oder Hebammen, die mit einem klaren Auftrag oder einem Medikament das Behandlungszimmer betreten. Ein grosser Teil unseres Jobs ist das gemeinsame «Aushalten», das aktive Zuhören – vorbehaltlos und nicht wertend. Das ist wichtig und richtig, aber auch, immer noch, anspruchsvoll.

Wie gehen Sie mit besonders belastenden Situationen um?
Eine Voraussetzung für unseren Beruf ist sicher, dass man gut geerdet ist. Aber natürlich gehen viele Ereignisse auch uns Seelsorgerinnen und Seelsorger nah – und wenn es das nicht mehr täte, wäre es an der Zeit eine andere Arbeitsstelle zu suchen. Hier hilft der wöchentliche Team-Rapport, in dem wir belastende Situationen besprechen können. Oder der direkte Austausch mit Kolleginnen und Kollegen. Oft hilft es sprichwörtlich schon, sich das Erlebte einmal von der Seele zu reden.

Gibt es eine Situation, welche Ihnen über die vergangenen Jahre besonders in Erinnerung geblieben ist?
Einmal wurde ein Kind reanimiert. Die ganze Situation war sehr hektisch und ich hatte die Aufgabe, seine Mutter zu betreuen. Sie war jedoch eher ablehnend und wollte in diesem Moment lieber nichts von mir wissen. Das akzeptierte ich natürlich, denn ich wollte mich ihr auf keinen Fall aufdrängen. Ich setzte mich mit etwas Distanz hin und blieb schweigend präsent. Glücklicherweise überlebte das Kind und ich traf die Mutter zwei Monate später zufällig bei einer Kontrolle im Spital wieder. Ich sprach sie an und fragte sie nach ihrem Wohlergeben. Da brach sie in Tränen aus und dankte mir sehr, dass ich in diesem Moment für sie da gewesen sei. Ich war überrascht, weil ich die Situation damals völlig anders wahrgenommen hatte. Doch dies zeigte mir einmal mehr, dass es manchmal einfach guttut, wenn eine andere Person da ist – ohne viel zu sagen oder zu machen.

«Wir arbeiten mit dem, was uns entgegenkommt und haben nicht zum Ziel, unsere eigenen Glaubens- und Weltbilder. weiterzugeben»

Wie gehen Sie als reformierter Pfarrer mit unterschiedlichen religiösen und spirituellen Bedürfnissen der Kinder und Familien um?
Als Seelsorger trete ich allen Menschen gleich gegenüber, egal welcher Religion oder Kultur sie angehören und welcher Tradition sie nachgehen möchten. Wir arbeiten mit dem, was uns entgegenkommt und haben nicht zum Ziel, unsere eigenen Glaubens- und Weltbilder weiterzugeben. Zu unserem Seelsorgeteam gehören auch zwei muslimischer Theologen. Wenn eine Familie also zum Beispiel wünscht, dass aus dem Koran rezitiert wird oder sie zusammen mit einem Imam arabisch beten wollen, kann ich das nicht ich anbieten, aber mein muslimischer Kollege schon. Es kann auch vorkommen, dass beispielsweise eine buddhistische Abschiedszeremonie gewünscht wird – für solche Bedürfnisse haben wir ein breites Netzwerk von Menschen, die wir kontaktieren können. Manchmal setzen wir uns aber auch einfach zum gemeinsamen Gebet oder Gespräch zusammen – egal, welcher Religion die Menschen angehören. Es zählt in diesem Moment mehr das Universelle, das Beisammensein und die Ausrichtung auf ein uns umfassendes Grösseres.

Was haben Sie durch Ihre Arbeit über das Leben und den Tod gelernt?
Als Spitalseelsorger arbeite ich sehr nah am Leben und gleichzeitig sehr nah am Tod. Ich sehe viele Menschen sterben, überleben, aber auch trauern. Mich beeindruckt die Tatsache, wie unverfügbar das Leben ist. Trotz unserer modernen Medizin bleibt ein Teil unseres Daseins unkontrollierbar. Deshalb bin ich demütig und versuche dankbar für das geschenkte, zerbrechliche und kostbare Leben zu sein.