

Christiane von May, Gründerin der Stiftung Pro Pallium, verlor 1993 ihre Pflegetochter Andrea an Lymphatischer Leukämie. 2005 gründete sie die Stiftung mit dem Ziel, für die betroffenen Familien eine Entlastungsangebot zu schaffen. Nun hat sich Christiane von May entschieden, die Stiftung zu verlassen, um noch einmal neue Wege einzuschlagen. Seit Anfang 2023 ist sie nicht mehr Stiftungsrätin.
Christiane von May (CvM) im Gespräch mit Marc Delaquis, Co-Geschäftsführer von Pro Pallium (MD), bei ihr zu Hause in Muri bei Bern.
MD: In Deutschland, wo Sie Ihre Pflegetochter Andrea palliativ begleitet haben, gab es bereits in der 1990er-Jahren sowohl ambulante wie auch stationäre Angebote, in der Schweiz gab es das Mitte der 2000er-Jahre noch nicht. Statt eines Kinderhospizes haben Sie sich dann für den innovativen, aber unkonventionellen Ansatz der ambulanten Familienbetreuung entschieden. Wie schätzen Sie diese Weichenstellung rückblickend ein?
CvM: Meine initiale Idee war, in die Schweiz zurückzukehren, um ein stationäres Kinderhospiz aufzubauen. Um sicher zu gehen, dass ein Kinderhospiz auch den Bedürfnissen der betroffenen Familien entspricht, gaben wir eine Studie in Auftrag. Es stellte sich heraus, dass die Betroffenen hierzulande eine Entlastung zu Hause einem stationären Hospiz vorziehen würden.
Ehrlich gesagt, war ich etwas enttäuscht darüber. Gerne hätte ich ein Hospiz aufgebaut und betrieben, doch im Mittelpunkt standen und stehen für mich die betroffenen Familien und deren Bedürfnisse. Daher habe ich den Entscheid, einen ambulanten Entlastungsdienst ins Leben zu rufen, nie bereut. Mehr noch, ich würde es auch heute noch so machen. Die Familien verbringen die meiste Zeit zu Hause und genau dort müssen sie entlastet werden. Es braucht aber auch stationäre Angebote wie Kinderhospize, denn die können Bedürfnisse abdecken, die wir ambulant nicht leisten können.
MD: Das Thema «Pädiatrische Palliative Care» hat Sie nun 30 Jahre begleitet. Zuerst als Betroffene mit Ihrer Pflegetochter in Berlin und 17 Jahre mit der Stiftung Pro Pallium. Das ist eine sehr lange Zeit. War die Übergabe der Stiftung ein schwieriger Schritt für Sie?
CvM: Für mich war es an der Zeit loszulassen. Einerseits bin ich glücklich darüber, mich anderen Dingen widmen zu können, andererseits stimmt es mich auch wehmütig. Es ist wie mit den leiblichen Kindern, irgendwann muss man sie ziehen lassen. Mit der Übergabe an sich habe ich mich nicht schwergetan. Ich habe volles Vertrauen in den Stiftungsrat und auch in die Mitarbeitenden und in die Freiwilligen von Pro Pallium. Die packen das auch ohne mich.

MD: Was ist das Erfreulichste gewesen während Ihres Engagement für Pro Pallium?
CvM: Erfreuliche Momente gab es viele. Woran ich mich besonders gerne zurückerinnere, ist der allererste Moment, an dem mir der Gedanke kam, so etwas aufzubauen. Nach dem Tod meiner Pflegetochter Andrea lag ich auf dem Balkonboden meiner Wohnung in Berlin und beobachtete die Kraniche, die über mir am Himmel ihre Kreise zogen. Da schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: «Christiane, du kümmerst dich nun um Palliative Care in der Schweiz». Dass diese Aufgabe mich die nächsten 30 Jahre begleiten würde, hatte ich zu dem Zeitpunkt nicht gedacht. In diesem Augenblick wurde Pro Pallium geboren und auch die Kraniche haben mich seither nicht mehr verlassen. Wieso ich mich damals nicht für einen Kranich im Logo entschieden habe, wüsste ich selbst gerne…
MD: Wo sehen Sie die Stiftung in 10 Jahren?
CvM: Ich wünsche mir, dass Pro Pallium ihre Stellung als Lotse in der pädiatrische Palliative Landschaft der Schweiz weiter ausbauen und festigen kann.
MD: Sie haben erlebt, wie sich die pädiatrische Palliative Care über die Jahre gewandelt hat. Durch den medizinischen Fortschritt sind heute Behandlungen möglich, die noch vor 30 Jahre undenkbar schienen. Diese bringen aber auch neue Herausforderungen mit sich. Welche Wünsche haben Sie an die PPC von morgen?
CvM: Bessere medizinisch-therapeutische Behandlungsmöglichkeiten zögern das Sterben und den Tod in eine vage Zukunft hinaus. Schwerstkranke Kinder leben heute länger und haben natürlich einen berechtigten Anspruch darauf, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Die meisten dieser Kinder bedürfen einer konstanten, intensiven Aufmerksamkeit und Pflege, die alleine von den Eltern nicht mehr bewerkstelligt werden kann.
Bei Andrea haben wir 1993 entschieden, dass wir auf einen weiteren, schmerzhaften Chemotherapiezyklus verzichten, da nach dem damaligen Stand des Fachwissens kaum eine Chance auf Heilung gab. Wir wollten Andrea einfach zusätzliches Leid ersparen. Ob diese Entscheidung nach dem heutigen Stand des ethischen Dialogs noch so einfach umzusetzen wäre, weiss ich nicht. Ich finde, dass heute durch den medizinischen Fortschritt den Kindern und auch den Eltern immer mehr zugemutet wird – teil mit fragwürdigen Ergebnissen. Und ich frage mich, ob das ethisch immer der richtige Weg ist. Nach meinem Empfinden müssen vermehrt ethische Grundsatzfragen geklärt werden, auch in der Palliative Care für Kinder. Und dann wünsche ich mir, dass die Finanzierung der fachlichen psychosozialen Betreuung in der Palliative Car endlich Fahrt aufnimmt; dies ist eine Aufgabe der Gesellschaft und nicht eine von Privaten.
MD: Welchen Stellenwert hat für Sie Philanthropie und sollten wir in unserer Gesellschaft mehr geben?
CvM: Philanthropie war für mich immer etwas Zentrales. So habe auch ich versucht, im Rahmen meiner Möglichkeiten einen Beitrag zu leisten. Und genau das würde ich auch anderen Menschen ans Herz legen: Im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen Beitrag zu leisten. Etwas für andere tun, das geht auch ohne eine Stiftung zu gründen.
MD: Und nun haben Sie viel freie Zeit… Welche Projekte beschäftigen Sie jetzt?
CvM: Heute male und zeichne ich gerne. Das Malen stellt mich vor neue Herausforderungen, die sich aber eher in mir selbst abspielen: Vermeintlich einfache Dinge bildlich darzustellen, kann äusserst schwierig sein. So sind Geduld und entspannte Gelassenheit die Themen, mit denen ich mich jetzt auseinandersetze.
