«Es braucht nun auch politischen Schub»
Was bedeutet es, ein Kind zu verlieren? Welche Herausforderungen begegnen Familien, die ihr schwerstkrankes Kind zu Hause versorgen möchten? Und wie können Medizin, Pflege und Soziales bei solch komplexen Schicksalen zusammenspannen? Diesen und weiteren Fragen wollte Pro Pallium während der Podiumsveranstaltung «Den Familienalltag mit schwerstkranken Kindern gestalten» am Mittwoch, 23. Oktober 2024, auf den Grund gehen.

Redaktion: Tabea Rosa, Bilder: Tabea Rosa, ZVG
Vom 19. bis 27. Oktober 2024 lud das Berner Stadtfestival «endlich.menschlich.» zur Diskussion über die Endlichkeit des Lebens ein. Die Eventreihe fand anlässlich des 8. Internationalen Kongresses zum Thema «Public Health Palliative Care» statt, der ebenfalls in der Hauptstadt ausgetragen wurde.
Auch Pro Pallium beteiligte sich an der wichtigen Debatte um die Endlichkeit des Lebens. Unter dem Titel «Den Familienalltag mit schwerstkranken Kindern gestalten» erhielten die rund 60 Besucherinnen und Besucher am Mittwoch, 23. Oktober Einblicke in die Welt der Pädiatrischen Palliative Care aus unterschiedlichen Perspektiven.
Mit einer bewegenden Lesung aus ihrem Buch «federleicht» und ihrem neuen Werk «Till – Flügelschläge des Lebens» führte Renate Bucher-Probst in den Abend hinein und nahm das Publikum mit in die kurze, aber intensive Lebenszeit ihres verstorbenen Sohnes. Ein kluger Junge, der seinen Namen allen Umständen zum Trotz auf seine Weise selbst schreiben wollte – und dessen Krankheit für die Familie langsam und unaufhaltsam zum Alltag wurde.
Eltern als Manager
Im Anschluss an diesen eindrücklichen Erfahrungsbericht beleuchtete Sozialanthropologin Sarah Brügger die Thematik der Pädiatrischen Palliative Care aus psycho-sozialer Perspektive. Die Wissenschaftlerin, welche auch bereits als freiwillige Mitarbeiterin bei Pro Pallium für Familien im Einsatz stand, hielt unter anderem fest: «In der Schweiz leben derzeit rund 10’000 Kinder mit Bedarf nach Palliative Care. Diese Kinder sind nicht zwingend am Lebensende, aber sie leben mit einer lebenslimitierenden oder einer lebensbedrohlichen Erkrankung.» Vor diesem Hintergrund hat Brügger zahlreiche Interviews mit betroffenen Familien durchgeführt. Diese zeigten unter anderem, dass Spitäler und Spezialist:innen eine zentrale Rolle in der Pflege und Betreuung der Kinder spielen und gleichzeitig Familien zunehmend den Wunsch hegen, ihre Kinder zu Hause zu versorgen.
Die Herausforderung dabei: Die Angebote des Gesundheitssystems decken nur einen kleinen Teil des immensen Pflege- und Betreuungsaufwandes ab, den das Kind in vielen Fällen rund um die Uhr benötigen würde. Die Hauptverantwortung und damit die grösste Last tragen die Eltern. Familien stehen deshalb vor immensen organisatorischen und emotionalen Herausforderungen, die zu Müdigkeit, Überlastung, Trauer, Einsamkeit, Hilf- und Machtlosigkeit führen. Hier bestehe dringend Handlungsbedarf, etwa in Form einer zentralen Anlauf- und Koordinationsstelle für Betroffene, einer vorausschauenden Beratung ab dem Zeitpunkt der Diagnose, zeitlicher Entlastung der Angehörigen sowie eines Einbezugs der Eltern auf Augenhöhe.
«Pädiatrische Palliative Care soll dem Leben nicht möglichst viele Tage geben, sondern jedem Tag möglichst viel Leben.»
Renate Bucher-Probst, in Anlehnung an ein Zitat der britischen Pflegefachfrau und Sozialarbeiterin Cicely Saunders
Pädiatrische Palliative Care soll ausgebaut werden
Unter der Moderation von Sozialanthropologin Eva Soom Ammann diskutierten im zweiten Veranstaltungsteil Sarah Brügger und Renate Bucher-Probst gemeinsam mit Tabea Mantsch (Stv. Leiterin Kinderspitex Biel-Bienne Regio) sowie Damian Hutter (Pädiater in Bern) unter anderem über die Herausforderungen, Chancen und Grenzen der aktuellen Versorgungsmöglichkeiten. Thematisiert wurde zum Beispiel die fehlende Privatsphäre von Familien mit schwerstkranken Kindern. «Für Betroffene ist Privatsphäre fast unmöglich – Eltern müssen alle Fäden in der Hand halten und die Tür für Fachpersonen unterschiedlicher Disziplinen öffnen, sie müssen Termine koordinieren und neben der aufwendigen Kinderbetreuung den Alltag mit all seinen weiteren Herausforderungen meistern», hielt Tabea Mantsch fest.
Weiter stelle zum Beispiel Fremdsprachigkeit eine Hürde für Betroffene dar, um unterschiedliche Dienstleistungen zu identifizieren und in Anspruch zu nehmen. In solchen Fällen müsse man im Beruf auch bereit sein, einmal eine «Extrarunde» zugunsten der Betroffenen zu drehen, so Damian Hutter. Konsens fanden alle Anwesenden in der Frage nach der Bedeutung der Pädiatrischen Palliative Care: Diese sei enorm wichtig und in der Schweiz vor allem in den Stadtgebieten auf einem qualitativ hochstehenden Niveau. Nun müsse das Gesundheitssystem Finanzierungsmöglichkeiten schaffen, damit sie weiter ausgebaut werden kann, um die Lebensqualität von schwerstkranken Kindern und ihren Familien zu gewährleisten.




Vier Fragen an …
Petra Männer, Regionalleiterin Pro Pallium und Organisatorin Podiumsevent

Petra Männer, was bedeutet dir ein Anlass wie das Stadtfestival «endlich.menschlich.»?
Für mich ist das Stadtfestival ein ganz besonderer Anlass, weil hier Themen, welche mir persönlich am Herzen liegen, in den Mittelpunkt gestellt werden. Krankheit, Sterben, Tod und Trauer gehören genauso in unser Leben wie die Gesundheit, die Geburt und die Freude. Der Umgang mit dem Tod in unserer Gesellschaft hat sich verändert: Es wird mehr privatisiert oder im Gegenzug überstilisiert. Gemeinsame Abschiedsrituale werden weniger angewandt – gestorben wird mehrheitlich in Institutionen und nicht zu Hause. Kommt hinzu, dass wir durch die hoch entwickelte Medizin länger leben, aber auch länger sterben. Während des Festivals wurden diese Themen facettenreich aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet – neben der eher schweren Komponente des Lebensendes wurden auch schöne, freudvolle, meditative und mitfühlende Aspekte betont. Das Sterben und der Tod wieder ins Leben geholt. Und dabei durfte auch eine Prise Humor nicht fehlen, das gefiel mir am Festival besonders gut.
Sollte die Pädiatrische Palliative Care mehr Aufmerksamkeit in der Gesellschaft erhalten?
Ich beobachte oft, dass Menschen wegschauen, wenn sie von einem Thema nicht persönlich betroffen sind. Sich mit der schweren Krankheit oder dem Tod eines Kindes auseinanderzusetzen, ist schwer. Kranke, behinderte und sterbende Kinder stellen das ganze Umfeld vor grosse körperliche und seelische Herausforderungen. Pädiatrische Palliative Care kann bereits im Mutterleib oder bei der Geburt beginnen, über viele Jahre andauern und sogar über den Tod hinausgehen. Über das, was zwischen Geburt und Tod von Kindern mit einer lebendlimitierenden oder lebensbedrohlichen Krankheit in einer Familie passiert, hat die Öffentlichkeit meist wenig Informationen. Genauso darüber, dass manche Familien nach dem Tod eines Kindes in finanzielle Nöte kommen. Mir ist es ein Anliegen, dass sich dies ändert. Was alles leisten die betroffenen Eltern und das nahe Umfeld? Welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es? Welche nicht? Findet eine Auseinandersetzung zu ethischen Fragestellungen statt? Wie vermeidet man Stigmatisierungen? Kurz gesagt: Ja, es braucht mehr Aufmerksamkeit für die Pädiatrische Palliative Care.
Was hast du dir im Vorfeld von der Podiumsdiskussion erhofft?
Offene Ohren und Herzen. Und, dass die Teilnehmenden und das Publikum Informatives, Anregendes, Berührendes und Neues dazulernen – wer weiss, ob wir sogar für den einen oder anderen Aha-Moment sorgen können. So ein Anlass kann vieles bewegen und bewirken. Vielleicht gewinnen wir dadurch auch neue Freiwillige für unser Engagement bei Betroffenen dazu. Oder vielleicht fällt es dem einen oder anderen Besucher etwas leichter, Familien mit schwerstkranken Kindern mit weniger Ängsten und Unsicherheit zu begegnen.
Sind deine Erwartungen erfüllt worden?
Mehr als das! Wir wussten nicht, wie viele Besucherinnen und Besucher wir an diesem Abend willkommen heissen dürfen. Doch der Saal füllte sich bis auf den letzten Stuhl, wir mussten sogar noch weitere Sitzmöglichkeiten bereitstellen. Die Lesung von Renate Bucher-Probst war berührend und anregend. Die Teilnehmenden beleuchteten unterschiedliche Facetten des Familienalltags und die anschliessenden Feedbacks der Teilnehmenden und des Publikums waren rundum positiv. Ich bin überzeugt, dass alle Anwesenden etwas von der Veranstaltung mitnehmen konnten. Ein weiterer Tropfen, um sowohl auf Mängel als auch Möglichkeiten des Gesundheitssystems im Bereich der Pädiatrische Palliative Care aufmerksam zu machen.
Zu Gast in der Berner Altstadt

Am Donnerstag, 24. Oktober, von 13 bis 21.30 Uhr durften sich Interessierte am Infostand von Pro Pallium in der Berner Zeughausgasse über das kostenlose Entlastungs- und Beratungsangebot der Stiftung informieren. Das Freiwilligen-Team um Pro-Pallium-Regionalleiterin Petra Männer berichtete vor Ort über die Freiwilligenarbeit für Pro Pallium und die einzigartige Basisschulung, mit welcher angehende Freiwillige auf ihre Entlastungseinsätze in den Familien vorbereitet werden. Auf kreative Besucherinnen und Besucher warteten zudem verschiedene Origami-Anleitungen, während andere sich den Quizfragen rund um die Pädiatrische Palliative Care stellten.