«Wir leben im Moment»
Die kleine Helena lebt seit ihrer Geburt mit der Glasknochenkrankheit. Ihre Familie hat in der schwierigen Zeit nach der Diagnose wieder zurück ins Leben gefunden – auch dank der Unterstützung von Madlen Marty.
Redaktion: Tabea Rosa
Bilder: Lisa Erard
Die warme Aprilsonne bahnt sich ihren Weg durchs offene Balkonfenster und taucht die Wohnung von Familie Meier-Winkler in gelbwarmes Licht. Dort herrscht Aufbruchsstimmung – Mutter Rahel und Vater Anton packen das Nötigste für einen Ausflug zum nahegelegenen Schrebergarten zusammen. Sophia sitzt im Schneidersitz auf dem gelbgrauen Teppich und baut einen bunten Turm aus Bausteinen für ihre kleine Schwester. Diese macht ihrem Namen derweil alle Ehre: Helena, auf Altgriechisch auch die «Strahlende», «Schöne» oder «Sonnenhafte» genannt, klatscht stolz in die Hände, nachdem sie das hölzerne Gebilde – begleitet von herzhaftem Kichern – zum Einsturz gebracht hat. Neben ihr sitzt Madlen Marty und beobachtet vergnügt das Geschehen. Seit rund zwei Jahren ist die freiwillige Mitarbeiterin von Pro Pallium jeden Donnerstagnachmittag zu Besuch im Zürcherischen Wollishofen, um einige Stunden mit der kleinen Helena zu verbringen. «Wir schauen uns gemeinsam Bilderbücher an, spielen mit den Holzbauklötzen oder gehen hinaus in die Natur – besonders gerne besucht Helena die bunten Papageie, die in einer Voliere ganz in der Nähe hausen», berichtet die 55-Jährige.
«Komm Helena, wir machen uns parat für den Schrebergarten», sagt Mutter Rahel und streichelt dem blonden Mädchen übers Haar. «Madlen!», entgegnet das kleine Mädchen mit strahlenden Augen und krabbelt an den Beinen der Freiwilligen hoch. «Ja, ich komme auch mit», antwortet diese und bückt sich zu Helena hinab. Man merkt schnell, aus der regelmässigen Besucherin ist über die vergangenen Monate längst mehr geworden: Jeder Handgriff sitzt, als Madlen die zarte Helena hochhebt und behutsam in den Kinderwagen setzt. «Wir konnten Madlen schon bald nach dem ersten Treffen ein grosses Vertrauen entgegenbringen und uns im Umgang mit Helena voll auf sie verlassen», berichtet Rahel Meier. «Das war für uns vor allem in der ersten Zeit nach der Diagnose unheimlich wertvoll.»
Ein schwieriger Rückblick
Das Leben der vierköpfigen Familien wurde kurz nach Helenas Geburt regelrecht auf den Kopf gestellt. Für ihre Eltern ist der Blick zurück auf die vergangenen Monate mit einer Zeit der Ungewissheit verbunden. So erinnert sich ihre Mutter: «Drei Wochen nach der Geburt hörte ich während dem Stillen plötzlich ein seltsames Knacken. Helena fing sofort aus vollem Leib an zu schreien und liess sich beinahe nicht mehr beruhigen
Im Krankenhaus stellte man beim Röntgen einen gebrochenen Oberschenkel fest, der Verdacht auf eine Knochenstoffwechselkrankheit stand im Raum. Zudem zeigte das Screening, dass offenbar bereits bei der Geburt das Schlüsselbein des Mädchens gebrochen war – ein eher untypisches Ereignis während der Geburt. Es folgten weitere Brüche im Wochentakt – insbesondere Oberschenkel und das rechte Ärmchen waren betroffen. Ein Gentest brachte schliesslich die Diagnose Glasknochenkrankheit hervor.
Seither muss die mittlerweile 2,5-jährige Helena zahlreiche Behandlungsmassnahmen über sich ergehen lassen. Ihre Therapie fusst auf drei Grundpfeilern: Einer davon ist die medikamentöse Verabreichung von Bisphosphonaten, welche den Abbau der Knochenmasse hemmen sollen und alle drei Monate
intravenös verabreicht werden.
«Ganz zu Beginn konnte nur ich meine Tochter versorgen und pflegen, wenn sie verletzt war.»
Rahel Meier
Ein anderer ist das Einsetzen sogenannter Marknägel, welche ihre Oberschenkelknochen von innen schienen sollen und mit dem Wachstum nach spätestens fünf Jahren erneuert werden müssen. Ein dritter Pfeiler besteht aus intensiver Physiotherapie zur Stärkung der Muskulatur. In Kürze steht ein weiterer Therapieblock bevor. «Aktuell befinden wir uns in einer längeren bruchfreien Phase», erklärt Helenas Papa, Anton Winkler. Sogenannte Bruchepisoden, in denen sich Helena in Abständen von wenigen Wochen etwas bricht, sind typisch für die Glasknochenkrankheit. Die Akutphase dauert in Helenas Fall meist zwischen 24 bis 72 Stunden. Bisher erlitt das Mädchen vier solche Episoden. «Ganz zu Beginn konnte nur ich unsere verletzte Tochter versorgen und pflegen», berichtet Rahel Meier. Dies sei eine enorme Belastung für die junge Mutter gewesen, welche fortan rund um die Uhr für die Betreuung.
und Versorgung des Säuglings verantwortlich war. Hinzu kamen die Angst vor den nächsten Bruchphasen, organisatorische Herausforderungen und zahllose weitere Belastungsproben. «Es war wirklich eine sehr intensive Zeit – für alle von uns.» Dank Madlens Besuchen habe vor allem Rahel Meier wieder Momente zum Durchatmen gefunden. Sei dies bei einer Yoga-Stunde, einem Tee auf dem Balkon oder beim Schreiben – die promovierte Kunsthistorikerin ist ehrenamtlich als Bloggerin für den Schweizer Familiengärtner-Verband tätig und unterrichtet Schreibkurse für Doktorierende an der Universität Zürich. Zudem ist sie als Stiftungsrätin regelmässig für die Eduard, Ernst und Max Gubler-Stiftung in Zürich engagiert.
Glück in Grünen
Mittlerweile sei in der Familie eine Art Entspannung eingekehrt, berichten die Eltern auf dem Weg zum Schrebergarten. Helena besuche aktuell sogar an zwei Tagen pro Woche die städtische Kita, wo sie eine Eins-zu-eins-Betreuung geniesse. Der Umgang mit dem kleinen Mädchen sei aufgrund ihres steigenden Alters und der damit einhergehenden «Robustheit» einfacher geworden. Auch Sophia sei in der Interaktion mit ihrer Schwester längst routiniert. «Ich bin ein richtiger Baby-Profi geworden!», ruft diese ein paar Meter weiter vorne. Sie tanzt um Madlen herum, welche Helena im Kinderwagen vor sich her stösst. Diese beobachtet vergnügt das bunte Treiben um sich herum, bis ihre Augenlider immer schwerer werden
«Wir versuchen, Schritt für Schritt vorwärtszugehen.»
Anton Winkler
Als die vierköpfige Familie mit Madlen Marty im Schrebergarten ankommt, ist Helena bereits in ihren Träumen versunken. Stolz präsentieren Sophia, Rahel und Anton ihre geplante 8-Beete-Wirtschaft: In wenigen Wochen sollen hier Kürbisse, Gurken, verschiedenes Wurzelgemüse, Salat, Tomaten, Peperoni, Mais, Erbsen und verschiedene Beeren spriessen – Tipps und Tricks holten sich die Hobby-Gärtner auch von Madlen Marty, die zuhause in Buonas selbst einen Garten pflegt und weiss, wie man etwa Beeren richtig zurückschneidet. Durfte die zweifache Mutter in den letzten beiden Jahren auch etwas von Familie Meier-Winkler lernen? «Auf jeden Fall! Wenn ich etwas hervorheben müsste, dann wäre das die enorme Ruhe, mit welcher Rahel und Anton selbst an die schwierigsten Situationen herangehen …»
Eine Ruhe, welche die Familie erst selbst erlernen musste. «Wir versuchen, möglichst Schritt für Schritt vorwärtszugehen und nicht zu weit in die Zukunft zu blicken», erklärt der promovierte Physiker und legt einen Arm um seine Frau. «Wir leben im Moment und geniessen einfach das Familienleben – etwa beim Urlaub im Tessin, in Spanien oder auch hier in unserer grünen Oase. Im Sommer essen wir manchmal hier zu Abend, diese Momente sind besonders idyllisch. Wie sagen wir dann jeweils vor dem Essen?», fragt er in Richtung von Sophia. Diese muss nicht lange überlegen: «En guete mitenand im ganze Land! Piep piep – mir händ eus lieb!»