«Fokus», Ausgabe 02/2024: Nachgefragt bei Barbara Bleisch

«Können wir ein glückliches Leben leben, wenn wir ewig lebten?»

Barbara Bleisch ist promovierte Philosophin, Mitglied des Ethik-Zentrums der Universität Zürich und Moderatorin der «Sternstunde Philosophie» bei SRF. Im Juli ist ihr neues Buch «Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre» bei Hanser erschienen.

Was sind die Zutaten eines glücklichen Lebens? Philosophin und Moderatorin Barbara Bleisch spricht im Interview über die Bedeutung von Gesundheit im menschlichen Leben.

Redaktion: Tabea Rosa
Bild: Miriam Kluka

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheit als Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens. Sind Sie aus philosophischer Perspektive mit dieser Definition einverstanden?
Worin Gesundheit besteht, ist auch philosophisch strittig. Gesundheit ist kein deskriptives, also kein beschreibendes Konzept, wie wir etwa angeben können, ab welcher Temperatur Wasser siedet oder ob ein Gedicht ein Sonett darstellt. Vielmehr handelt es sich bei «Gesundheit» um ein normatives Konzept, das zum einen mit Bewertungen verbunden ist, zum anderen mit Normen. Das bedeutet, eine solche Definition ist nicht richtig oder falsch, sondern wir können nur fragen, was damit gefördert oder geschützt werden soll. Die WHO-Definition ist vielen zu weit, weil wohl kaum jemand «vollständiges Wohlbefinden» kennt. Man versteht die Definition besser, wenn man bedenkt, dass die WHO Gesundheit befördern will – und dazu gehört es auch, soziale Faktoren zu berücksichtigen. Wir wissen heute beispielsweise, dass Einsamkeit ein Gesundheitsrisiko darstellt und kaum etwas die Gesundheitschancen einer Person so stark bestimmt wie ihr Bildungsgrad.

«Ob eine Person im Rollstuhl sich zum Beispiel als krank erlebt, hängt auch davon ab, wie wir die Welt einrichten …»

Barbara Bleisch

Ist Gesundheit das Gegenteil von Krankheit?
Das hängt natürlich von der Definition der Begriffe ab. Legen wir eine so umfassende Definition wie jene der WHO zugrunde, scheint das wenig plausibel. Jede Person, die nicht über vollständiges körperliches Wohlbefinden verfügt, wäre demnach krank. Das ist auch lebensweltlich offenkundig nicht zutreffend. Eine Person kann zum Beispiel leicht übergewichtig sein oder unter Juckreiz leiden wegen Mückenstichen, sich also körperlich nicht vollständig wohl fühlen. Dennoch ist sie nicht krank. Ausserdem blenden wir gern auch aus, dass eben auch «Krankheit» ein normatives Konzept ist. Ob eine Person im Rollstuhl sich zum Beispiel als krank erlebt, hängt auch davon ab, wie wir die Welt einrichten: Ob es Rampen und Lifte und behinderungsgerechte Toiletten gibt.

Ist Gesundheit eine Voraussetzung dafür, um glücklich zu sein?
Nein. Und zwar weder im hinreichenden noch im notwendigen Sinn. Jemand kann kerngesund sein, aber eine unzufriedene Person, die andauernd an sich oder anderen herummäkelt. Ich würde davor warnen, jede charakterliche Schwäche zu pathologisieren. Umgekehrt kann eine Person zwar als krank betrachtet werden, etwa weil sie ein rheumatisches Leiden hat oder langsam erblindet, und sie hat deshalb Anspruch auf bestimmte Sozialleistungen. Dennoch kann sie glücklich sein. Damit will ich nicht sagen, Krankheit sei «Einstellungssache». Ich glaube vielmehr, dass medizinische Kriterien zusammenkommen müssen mit einem subjektiven Leidensdruck, sodass Krankheit auch das Glücksempfinden von Personen beeinträchtigt.

Wie würden Sie den Begriff des Glücks respektive der Glückseligkeit aus philosophischer Perspektive beschreiben?
Das ist eine sehr grosse Frage, über die die Philosophie seit Jahrtausenden nachdenkt. Grob gesagt, braucht es für ein umfassend glückliches Leben meiner Ansicht nach drei Ingredienzen: Erstens sind dies hedonistische Güter, also Momente des Wohlbefindens wie warm und geborgen zu sein, hie und da ausschlafen zu können oder in der Sonne liegen oder mit Freunden lachen, und so weiter. Zweitens sind es Momente der Sinnhaftigkeit, also das Gefühl, gebraucht zu sein oder zu einem grösseren Ganzen beizutragen in der Familie, bei der Arbeit oder in einem Verein, und so weiter. Und drittens kommt das sogenannte Zufallsglück hinzu: dass wir auf günstige Umstände stossen. Wer mitten im Krieg geboren wird oder in extremer Armut oder mit einer schweren Behinderung, hat es schwerer, glücklich durchs Leben zu gehen. Es ist nicht unmöglich, aber anstrengender. Wir haben also einiges in der Hand, wenn wir glücklich leben wollen, aber längst nicht alles.

«Die Tatsache, dass unser Leben endlich ist, zwingt uns auch, mit unserem Leben etwas anzufangen und nicht alles auf die lange Bank zu schieben.»

Barbara Bleisch

Hat nur ein erfülltes und glückliches Leben gelebt, wer lange gelebt hat?
Auf keinen Fall! Jemand kann im oberen Sinn ein sehr glückliches Leben leben und dann ganz tragisch mitten im Leben schwer erkranken und versterben. Das ändert nichts daran, dass sein Leben ein glückliches war. In der Philosophie wird eher die umgekehrte Frage gestellt: Können wir ein glückliches Leben leben, wenn wir ewig lebten oder zumindest sehr viel länger als heute? Die Tatsache, dass unser Leben endlich ist, zwingt uns auch, mit unserem Leben etwas anzufangen und nicht alles auf die lange Bank zu schieben. Das führt manchmal dazu, dass wir umso genauer erkennen, was uns wichtig ist und uns dem zuwenden. Wenn jemand allerdings von einer Krankheit betroffen ist, die früh ausbricht und tödlich verlaufen wird, kann es sehr schwer sein, glücklich weiterzuleben, weil man zurecht mit der eigenen Situation hadert. Das Schicksal ist nicht gerecht, und das Hadern mit solchen Momenten können wir den Betroffenen nicht abnehmen, nur versuchen, in aller Aufmerksamkeit und Fürsorge für sie da zu sein, genauso wie für deren Angehörige.

«Gesundheit gut, alles gut!» – Was denken Sie: Weshalb wird die Gesundheit oft als höchstes Gut im Leben betrachtet?
Diese Frage ist tatsächlich hoch relevant. Gegenwärtig – im Kontext stetig steigender Gesundheitskosten und damit zunehmend zusammenhängender Fragen der Verteilungsgerechtigkeit – auch in politischer Hinsicht. Die Philosophie hat darauf eine, wie ich meine, gute Antwort parat: Der hohe Wert, den wir der Gesundheit zusprechen, gründet darin, dass Gesundheit als sogenannt «transzendentales Gut» verstanden werden. Sie ist eine Bedingung der Möglichkeit der Verwirklichung anderer Güter. Ohne Gesundheit können wir ganz viele Dinge nicht tun, die für ein gelingendes Leben von Bedeutung sind – Arbeit, Liebe, soziale Beziehungen pflegen zum Beispiel. Das bedeutet nicht, dass Gesundheit auch notwendigerweise das höchste Gut ist, aber seine zentrale Bedeutung für das menschliche Leben ist damit doch gut beschrieben. Und damit auch unsere Verpflichtung, solidarisch und sozial dafür zu sorgen, dass bestmögliche Gesundheit für alle erreicht werden kann.