Einblicke
In ihrem ersten Lebensjahr erkrankt die Tochter von Mathias Oberli an Leukämie. Ein langer Leidensweg beginnt, der die junge Familie an ihre Grenzen bringt – und darüber hinaus. Ein Jahr nach dem Tod von Launora spricht Mathias Oberli über ihre gemeinsame Zeit, die Zeit danach und darüber, wie er heute auf das Leben blickt.
«Launora sitzt im Kindersitz auf dem Lenker meines Fahrrads und lacht laut in den Fahrtwind hinaus, während ich immer fester in die Pedale trete und mit ihr das hügelige Emmental durchstreife… Das ist eine meiner schönsten Erinnerungen an sie.» In Mathias Oberlis Gesicht breitet sich ein Lächeln aus. Heute, an einem warmen Augusttag, rund ein Jahr nach dem Tod von Launora, spaziert er entlang der Aare und erzählt von seiner Tochter.
Am 25. November 2019 kam Launora Liseli Oberli zur Welt – ihren klingenden Namen verdankte das Mädchen zum einen den kosovarischen Wurzeln ihrer Mutter, zum anderen dem Vornamen ihrer Grossmutter Liseli. «Sie war ein typisches Anfängerbaby», erinnert sich der gelernte Spengler. «Und sie startete richtig durch – an ihrer Taufe mit sechs Monaten habe sie mit Unterstützung ihrer Eltern schon fast laufen können, ergänzt er stolz. «Wir waren überglücklich.»
Der lange Weg zur Diagnose
Es war in ihrem 8. Lebensmonat, als Launora eines Nachts schreiend aufwachte. «Wir wussten, dass irgendetwas nicht stimmte. Und ab diesem Zeitpunkt ging es ihr nicht mehr gut. Sie wurde von Tag zu Tag müder und appetitloser, sie war blass und antriebslos.» Doch kinderärztliche Untersuchungen brachten vorerst keine Ergebnisse zutage. Erst mit 9 Monaten, als sich Launoras Zustand zusehends verschlechterte, zeigten erneute Blutuntersuchungen einen überhöhten Kalziumwert an – der Verdacht auf Leukämie stand im Raum. Es folgte ein zweiwöchiger Aufenthalt auf der Intensivstation. «Man machte Blutbilder, Röntgenaufnahmen, Ultraschall und führte Computertomographien durch», erzählt Mathias Oberli. «Und schliesslich entnahm man auch Knochenmark. Der Moment, als Launora dafür das erste Mal in Narkose versetzt wurde, war unheimlich schwierig für mich.»
Die Untersuchungen blieben zunächst ergebnislos. «Das war wirklich ungewöhnlich und das Team der Intensivstation stand vor einem Rätsel, denn Launoras Kalziumwerte spielten regelrecht verrückt.» Die dreiköpfige Familie wurde für weitere Untersuchungen auf die Onkologie verlegt. Zwei Wochen später folgte eine erneute Knochenmark-Entnahme, diesmal mit eindeutigem Ergebnis: Launora war an akuter lymphatischer Leukämie erkrankt.
Akute lymphoblastische Leukämie (ALL)
Normalerweise vermehren und erneuern sich alle Blutzellen in einem harmonischen Gleichgewicht. Sie durchlaufen dabei einen komplizierten Reifungsprozess. Bei der akuten lymphoblastischen Leukämie reifen die weissen Blutkörperchen jedoch nicht mehr zu funktionstüchtigen Zellen heran, sondern vermehren sich rasch und unkontrolliert. Sie verdrängen dadurch die normale Blutbildung, so dass gesunde weisse Blutzellen sowie rote Blutzellen und Blutplättchen nicht mehr im notwendigen Umfang gebildet werden.
«Zu Beginn fühlte sich die Diagnose für mich wie eine Befreiung an»
«Zu Beginn fühlte sich die Diagnose für mich wie eine Befreiung an», berichtet Oberli. «Endlich wussten wir, was mit unserer Tochter los war. Und die Ärztinnen und Ärzte sprachen von guten Heilungschancen, da die Leukämie früh entdeckt wurde.» Umgehend startete das Behandlungsteam mit einem zweiwöchigen Chemotherapieblock. «Ich versuchte währenddessen, Launoras Vorbild so gut es geht zu folgen. Denn auch wenn es ihr nach den zahlreichen Infusionen jeweils sehr schlecht ging, meisterte sie die Behandlungen auf aussergewöhnlich tapfere Weise.»
Maximaler Behandlungsweg
Mathias Oberlis Blick festigt sich. «Am 6. Januar 2020 musste ich mich zum ersten Mal mit dem Gedanken an den Tod auseinandersetzen. Wir sassen gemeinsam auf dem Spitalbett und spielten, als Launora ohnmächtig wurde.» Während seine Tochter reanimiert wurde, verharrte ihr Vater wie gelähmt im Nebenzimmer. «Es waren fünf Minuten, die ich nie wieder vergessen werde. Ich dachte: Jetzt ist es passiert, sie ist gestorben.» Doch Launora erholte sich wieder. Und die Therapie wurde fortgesetzt.
Diese reizte den maximalen Weg an Therapieblöcken aus – allesamt blieben erfolglos. Auch eine Antigen-Therapie brachte keine Heilung. Erst die Idee einer Stammzellentransplantation im Kinderspital Zürich liess erneut Hoffnung in der jungen Familie aufkeimen. «Es war eine enorm intensive Zeit, Launora musste zwei Monate lang in Isolation verbringen, während ich und ihre Mutter uns im Vierstundentakt mit Besuchen abwechselten.» Doch auch diese Prüfung meisterte das Mädchen mit Geduld und einer gewohnten Prise Schalk: «Wenn ich ihr von ausserhalb der Isolationskabine zuwinkte, streckte sie mir die Zunge heraus und gab mir mit Pantomime zu verstehen, ich müsse mir doch zuerst noch die Arme und Hände desinfizieren.»
Bald darauf, Launora durfte sich zu Hause im Emmental von der Behandlung erholen, überbrachte das Ärzteteam der Familie nach einer Folgeuntersuchung die traurige Botschaft: Die Leukämie war erneut zurückgekehrt. Diesmal in einer veränderten, noch schwerer zu behandelnden Form.
«Wir waren bereits bis ans Limit gegangen.»
«Zum ersten Mal sprachen die Ärzte davon, dass wir nun Zeit hätten. Zeit, uns die nächsten Schritte zu überlegen», erinnert sich Mathias Oberli. «Zeit? Bisher hatten wir nie Zeit, dachte ich und wusste, diesmal war etwas anders.» Die Behandlungsmöglichkeiten waren ausgeschöpft. «Wir mussten uns damit auseinandersetzen, dass Launora wahrscheinlich nicht mehr gesund wird.» Doch bis Launoras Eltern diesen Gedanken zulassen konnten, mussten einige Monate vergehen. «Wir informierten uns in dieser Zeit zwar über weitere Therapieformen. Doch deren Erfolgsaussichten waren äusserst gering und die negativen Auswirkungen auf Launoras Zustand zu hoch. Denn wir waren bereits bis ans Limit gegangen.»
Zurück im Inselspital wurde die Familie fortan von einer Onkologin begleitet, die sich der Thematik des sorgsamen Umgangs mit der Zeit vor und nach dem Tod eines Kindes angenommen hatte. «Mit ihr starteten wir in die Palliativ-Phase von Launora. Im Nachhinein darf ich sagen, dass es die schönste Phase unseres gemeinsamen Lebens war.»
Im Januar 2022 erhielt Launora eine Chemotherapie auf Tablettenbasis, welche die Vermehrung der Leukämie hemmen sollte. Zeitgleich wurden die Krankheitssymptome behandelt, um Launora die bestmögliche Lebensqualität für ihre verbleibende Zeit zu schenken. «Mit der Onkologin erstellten wir einen Plan davon, was wir bis zum Tod von Launora noch alles gemeinsam erleben möchten», erzählt der Berner und blickt aufs Wasser. Zu diesem Zeitpunkt lebten Launoras Eltern bereits getrennt – ihre Beziehung hatte den enormen Belastungen, die seit der Diagnose auf das Familiensystem eingewirkt hatten, nicht länger standhalten können. Dennoch entschieden die beiden, die verbleibende Zeit ihrer Tochter zu dritt zu verbringen: «So reisten wir zum Beispiel nach Italien ans Meer, fuhren Riesenrad, besuchten den Seeteufel in Studen und fuhren in die Berge. Wir durften auch ein Familienwochenende im Kinderhospiz Allani verbringen, wo Launora rundum versorgt wurde, so viel spielen und unternehmen konnte wie sie wollte und auch wir als Eltern eine Auszeit nehmen konnten.»
Vom Wasserkäfer zur Libelle
Launoras Zustand verschlechterte sich in Schüben. «Ab Juni zogen sich ihre Lebenszeichen schliesslich immer mehr zurück. Da wussten wir, dass es nun darum ging, sie loslassen zu können. Doch wie sagt man seiner 2,5 Jahre alten Tochter, dass sie bald sterben muss?» Mit dieser Frage wandte sich Oberli auch an seine damalige Trauerbegleiterin. Diese machte ihn auf eine Geschichte aufmerksam: «Es ist eine Geschichte über einen Wasserkäfer, die den sicheren Teich verlässt, um zur Libelle zu werden und davonzufliegen. Launora lauschte der Geschichte aufmerksam und gab spielerisch zu verstehen, dass sie eine Libelle sei. Als ich sie schliesslich fragte, ob sie auch bereit sei, wie die Libelle fortzufliegen, antwortete sie mit ‹ja›. Ich spürte die Verbindung. Und ich wusste gleichzeitig, dass sie verstanden hatte. Von mir fiel eine unermessliche Last ab.»
Loslassen zelebrieren
Mithilfe der Kinder-Spitex konnte die junge Familie die letzte Lebensphase ihrer Tochter zu Hause im Emmental verbringen. Persönliche, emotionale Unterstützung fand Mathias Oberli auf verschiedenen Ebenen: Beim Arbeitgeber, in der Familie, bei Freundinnen und Freunden, im umfangreichen Spitalnetzwerk, aber auch bei einer Psychologin und einer Trauerbegleiterin. «Sie hat mich gelernt, das Loslassen in verschiedenen Situationen immer wieder zu üben, quasi zu zelebrieren.» Dieses breite Netz an Unterstützung habe ihn getragen. Bis zuletzt.Mit zwei Jahren und acht Monaten ist Launora Liseli Oberli am 25. Juli 2022 im Familienbett zwischen Mami und Papi verstorben. Ihre Eltern konnten das Mädchen bis zum letzten Atemzug begleiten. «Wir hatten uns im Verlaufe von Launoras Krankheit ein paar Mal an den Tod herangetastet. Doch auf den Moment, wenn er tatsächlich eintritt, ist man nicht vorbereitet. Trotz allem war ich froh, dass mein Kind so gehen konnte, wie wir es uns erhofft hatten.»
«Ich durfte nicht zum Stillstand kommen»
Den Tag ihrer Beerdigung konnten Launoras Eltern nach ihren persönlichen Wünschen frei gestalten – die einfühlsame Unterstützung der Bestatterin sei hierbei enorm hilfreich und entlastend gewesen. Dennoch erinnert sich Oberli daran, wie sich in jener Zeit ein Taubheitsgefühl in ihm ausbreitete. «Ich habe nur noch funktioniert.» Nach der Beerdigung habe er zu Hause schnellstmöglich alles aufgeräumt und ins Kinderzimmer verstaut. «Ich durfte nicht zum Stillstand kommen, sonst würde ich ins Bodenlose fallen, das wusste ich.» Deshalb suchte er Halt bei Freunden und Familie, aber auch in psychologischer Unterstützung und Trauerbegleitung. «Es gab so viele Themen und Erinnerungen, die ich nochmals durchdenken und durchleben musste – zum Teil auch heute noch. Das ist harte Arbeit, aber enorm wichtig.» Natürlich habe er im vergangenen Jahr immer wieder Tiefpunkte erlebt, doch dank Unterstützung von aussen habe er auch jedes Mal wieder einen Weg hinausgefunden. Eine dreiwöchige Küstenreise von Italien nach Spanien habe ihm Zeit zum Durchatmen und neue Kraft gegeben.
Etwas zurückgeben
Derzeit absolviert Mathias Oberli, der sich mittlerweile zum Energieplaner im Bauwesen weiterbilden liess, die Freiwilligen-Basisschulung der Stiftung Pro Pallium. Sie soll ihn auf seinen Einsatz im Kinderhospiz Allani in Bern vorbereiten. Er selbst habe erlebt, dass ein grosser Teil der Unterstützung, die seiner Familie widerfahren ist, auf Freiwilligen- und Spendenbasis erfolgte. Zum Beispiel die Betreuung im Kinderhospiz oder ein sogenannter Traumdoktor-Hausbesuch, organisiert von der Stiftung Theodora. «Deshalb möchte ich der Gesellschaft etwas zurückgeben und betroffene Eltern bestmöglich in dieser herausfordernden Phase unterstützen», sagt Oberli, der zusätzlich im Namen der Fachstelle «kindsverlust.ch» Austauschtreffen für Väter von verstorbenen Kindern organisiert. Der 31-Jährige ist überzeugt: «Wer trauert, der darf und soll sich dafür auch Hilfe holen – denn sie ist da. Und: niemand ist mit seiner Trauer allein. Der Austausch mit anderen, die dasselbe oder ein ähnliches Schicksal teilen, kann sehr heilsam sein.»
Auf die Frage hin, wie es ihm heute gehe, wird es für kurze Zeit still. Dann entgegnet Mathias Oberli: «Ich darf sagen, dass sich das Leben zum Guten gewendet hat. Ich kann Freude nun bewusster erleben und schwierige Momente besser akzeptieren – weil ich Vertrauen darin habe, dass es wieder anders wird.» Was bleibe, sei eine riesige Sehnsucht nach seiner Tochter. Doch diese gehöre nun zu seinem Leben dazu. Und wenn er an sie denke, breite sich Freude in ihm aus: «Ich denke daran, wie schön es war mit ihr, ans gemeinsame Gutenachtliedli-Singen – und an ihr wunderbar hemmungsloses Lachen – vorne, auf dem Lenker meines Fahrrads.»