Interview: Was Krankheit mit sich bringt

Nachgefragt bei
Dr. Cornelia Rüegger

Dr. Cornelia Rüegger ist Professorin für Soziale Diagnostik und Prozessgestaltung an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. Im Interview erklärt sie unter anderem inwiefern die psychische, physische und soziale Dimension in Belastungssituationen zusammenhängen.

Dr. Cornelia Rüeggers Tätigkeitsgebiete liegen in der Forschung, Praxisentwicklung und Lehre. Von 2021 bis 2023 hat sie die Stiftung Pro Pallium beim Entwicklungsprojekt «Optimierung und Stärkung der psycho-sozialen Dimension» unterstützt.

In Ihrem Berufsalltag widmen Sie sich unter anderem der sozialen Dimension von Krankheit. Wie sind sie dazu gekommen?
Ich habe mich für das Fachgebiet Soziale Arbeit entschieden, weil ich mich für die Lösung oder zumindest Linderung von sozialen Problemen einbringen will. Nebst der direkten Arbeit mit Menschen in schwierigen Lebenssituationen interessieren mich die Erforschung von psychosozialen Problemen der Lebensführung und die Entwicklung von wirksamen Unterstützungsangeboten. Bereits in früheren Forschungsprojekten fiel mir auf, dass in der Behandlung von Menschen mit psychischen Störungen die soziale Dimension ihrer Krankheitsdynamik zu wenig berücksichtigt wird. Es ist jedoch wissenschaftlich belegt, dass Gesundheit und Krankheit eng mit sozialen Faktoren in Beziehung stehen. Soziale Probleme können Teil der Entstehung, Aufrechterhaltung wie auch Folge der Krankheitsdynamik sein. Die soziale Dimension von Krankheit ist aber in Forschung und interprofessioneller Praxis bis heute unterbelichtet. Diese Tatsache treibt mich an und ist einer der Gründe, weshalb ich mich auf das Verstehen und Behandeln der sozialen Dimension von Krankheit spezialisiert habe.

Inwiefern hängen die psychische, die physische und die soziale Dimension in Belastungssituationen zusammen?
Wir Menschen sind in unserer Natur sogenannte bio-psycho-soziale Wesen, wir haben also eine innere biologische und psychische Ausstattung. Gegen aussen bilden wir – zum Überleben und zur Befriedigung unserer biologischen, psychischen und sozialen Bedürfnisse – soziale Systeme aus. Das heisst, wir sind über konkrete Beziehungen und Aktivitäten in verschiedene Systeme eingebunden; etwa in die Familie, in die Schule oder die Arbeit. Gleichzeitig sind wir als Individuen mit unterschiedlichen Voraussetzungen, Ressourcen und Möglichkeiten in diesem Umfeld ausgestattet. Unsere biologische Ausstattung, zu ihr gehören etwa das Nervensystem oder das Herz-Kreislaufsystem, steht in ständiger Wechselwirkung mit dem psychischen System, also unseren Gedanken, Emotionen und Verhaltensweisen. Zum Beispiel ist heute belegt, dass langanhaltender psychischer Stress krank macht. Dieses Zusammenspiel kann jedoch auch durch eine weitere Dimension beeinflusst werden: die soziale Ebene. So können etwa dauerhafte Familienkonflikte, Armut, ungünstige Arbeitsbedingungen oder Mobbingerfahrungen psychisch und physisch beeinträchtigende Auswirkungen haben. Umgekehrt können sich psychosoziale Probleme als Folge einer langzeitlichen körperlichen Erkrankung zeigen.

«Die Forschung zeigt, dass die psychosoziale Belastung der Familienmitglieder ebenso gravierend sein kann wie diejenige des kranken Kindes.»

Dr. Cornelia Rüegger

Inwiefern können solche psychosozialen Folgen auch in Familien mit schwerstkranken Kindern entstehen?
Eine schwere körperliche Erkrankung im Kindes- oder Jugendalter kann akute psychische und soziale Belastungen auslösen und langfristige Folgen für Kind und Familie haben. Die Forschung zeigt, dass die psychosoziale Belastung der Familienmitglieder ebenso gravierend sein kann wie diejenige des kranken Kindes. Nach dem Schock der Diagnose und der emotionalen Herausforderung folgt oft eine schwierige Phase der Anpassung an die neue, eingeschränkte Lebensführung und die nötigen medizinischen Behandlungsmethoden. Langfristig können sich in der Familie verschiedene, ernst zu nehmende psychosoziale Probleme entwickeln.

Haben Sie dazu ein Beispiel?
Die Eltern sind einem hohen administrativen und organisatorischen Aufwand ausgesetzt – so gilt es zahlreiche Abklärungen mit der Krankenkasse, Sozialversicherungen und weiteren gesundheitsdienstlichen Einrichtungen zu machen. Hinzu kommen finanzielle Belastungen, etwa weil ein Elternteil die Berufstätigkeit aufgrund des hohen Pflegebedarfs des Kindes aufgibt, was sich auch auf die Altersvorsorge auswirkt. Oder weil die medizinische Versorgung hohe Kosten mit sich bringt. Selten bleibt dann auch Zeit für die Paarbeziehung der Eltern. Sie befinden sich in einer chronischen Belastungssituation und einem anhaltenden Stresserleben, was oftmals zu Schlafstörungen führt. Weitere Auswirkungen der Krankheit können auch Schuldgefühle der Eltern sein, Depressionen, Einsamkeit oder Probleme auf der Arbeit. Körperliche Beschwerden, welche die Pflege des Kindes mit sich bringt, und Erschöpfung treten ebenfalls häufig auf. Oft fehlt schliesslich die Kraft, um angemessen auf die Entwicklungsschritte und -probleme der Geschwisterkinder eingehen zu können. Auch bei ihnen können sich psychosozialen Folgen der Erkrankung zeigen, zum Beispiel in Form von Problemen in der Schule, Schuldgefühlen oder reaktiven Verhaltensweisen. Kommt hinzu: Die Belastungssituation der Familie wird durch das bestehende Hilfesystem nicht immer gelindert, auch das Gegenteil kann der Fall sein.

Weshalb?
Das Hilfesystem kann die Belastungssituation noch vergrössern, wenn die verschiedenen Hilfeleistungen und Behandlungen nicht oder zu wenig koordiniert sind. Manche Eltern fühlen sich von den Fachpersonen auch zu wenig gehört und verstanden. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn sich die organisationalen Prozesse der behandelnden Fachpersonen mit der Krisensituation und Bedürfnissen der Familie nur schwer vereinbaren lassen. Manchen Eltern fällt es deshalb schwer, Vertrauen aufzubauen und Unterstützung anzunehmen. Vielen fehlt aber schlichtweg auch die Zeit und Energie, im hochbelasteten Alltag zusätzliche Beratungen zu nutzen.

Das Hilfesystem ist gefordert, phasenspezifisch den Betroffenen die richtige Form an Unterstützung zu geben.

Dr. Cornelia Rüegger

Können je nach Krankheitsphase die psychosozialen Belastungen unterschiedlicher Natur sein?
Ja, das wird von betroffenen Familien und Fachpersonen berichtet. Auch die Forschung zeigt, dass chronische Krankheiten in verschiedenen Stadien verlaufen, welche unterschiedliche medizinische, aber auch psychologische und soziale Herausforderungen mit sich bringen. Deshalb erfordern sie unterschiedliche Bewältigungsstrategien: Eltern und Kind müssen je nach Phase unterschiedliche emotionale, soziale und körperliche Anpassungsleistungen erbringen. Das heisst, ab dem Moment der Diagnosestellung sollten je nach Krankheitsphase nicht nur medizinische, sondern auch passende psychosoziale Unterstützungsangebote zur Verfügung stehen.

Wie sieht psychosoziale Begleitung und Entlastung im Bereich der pädiatrischen Palliative Care konkret aus?
Allgemein formuliert geht es in diesem Kontext um die psychosoziale Hilfe zur Lebensbewältigung bei schweren, langandauernden und leider oft auch lebensbegrenzenden Erkrankungen. Diese Hilfe orientiert sich neben den erkrankten Kindern oder Jugendlichen auch an den Eltern und den Geschwisterkindern. Im Bereich Familienbegleitung richtet sich der Fokus speziell auf das Familiensystem: Konkret geht es also darum, bedarfsorientierte Entlastung für den Alltag zu erkennen und zu ermöglichen, aber auch stabilisierende Rahmenbedingungen zu stärken sowie Ressourcen und Bewältigungsstrategien zu erschliessen. Es geht ebenfalls darum, sich Zeit zu nehmen, ein offenes Ohr zu haben und Trauerprozesse zu begleiten. Letztere setzen bereits mit der Krankheitsdiagnose des Kindes ein. Die Triage und Vermittlung von möglichen Fachpersonen und -organisationen im Hilfesystem oder die Vernetzung mit anderen Betroffenen sind ebenfalls entlastende Elemente.

Wo gibt es in diesem Bereich noch Entwicklungs- und Forschungspotenzial?
Zum Beispiel in der Erkennung von Problemlagen und Bedürfnissen der betroffenen Familien in den unterschiedlichen Krankheitsphasen des Kindes. Darauf aufbauend sollen dann verschiedene Unterstützungsangebote evaluiert und koordiniert werden. Dieses Case Management ist noch ausbaufähig, insbesondere dort, wo Kinder und Jugendliche keinen regelmässigen stationären Spitalaufenthalt benötigen. Weiteres Entwicklungspotenzial liegt bei der Prävention der Geschwisterkinder. Darüber hinaus gibt es auch Forschungsbedarf: Hier ist das Stichwort Wirkungsforschung ein zentrales Thema. Das heisst, Fachpersonen und Anbieter:innen psychosozialer Dienstleistungen sind zunehmend gefordert, die Wirkungen ihrer Interventionen sichtbar zu machen.