Nachgefragt

«Trauer verläuft nicht linear»

Janine Hächler engagiert sich seit 2009 als Stiftungsrätin bei Pro Pallium und bietet im Namen der Stiftung auch Trauerbegleitung für Eltern und Geschwister verstorbener Kinder an. Wir wollten unter anderem von ihr wissen: Was macht Trauer mit uns und weshalb ist es trotz allem wichtig, ihr Raum zu geben?

Janine Hächler, was genau bedeutet eigentlich Trauer?

Trauer ist ein riesiges Wort. Sie ist eine höchst komplexe Emotion, bezogen auf einen schwerwiegenden Verlust – zum Beispiel einer geliebten Person. Trauer kann enorm intensiv sein und mit Wut, Verzweiflung, Angst, Leere- und Schuldgefühlen einhergehen. Sie kann aber auch körperliche und kognitive Auswirkungen haben und sich zum Beispiel in Form von Schlafstörungen, Erschöpfung, Appetitlosigkeit, Konzentrationsschwäche oder gar Gedächtnisschwund zeigen.

In der Fachwelt spricht man von verschiedenen Phasen der Trauer. Was hat es damit auf sich?

Es gibt unzählige Trauermodelle von diversen Expertinnen und Experten. Wichtig ist mir vorweg zu erwähnen, dass man sich nicht darauf fixieren sollte. Trauer verläuft nicht linear, sondern einzelne Phasen überschneiden sich immer wieder. Wenn wir das klassische Trauerphasenmodell betrachten, zeigt sich die erste Phase der Trauer meist in der Leugnung des eigenen Schicksals – zum Beispiel beim Verlust des eigenen Kindes. Man will es nicht akzeptieren und denkt: «Es darf nicht sein, dass mir das passiert.» In der zweiten Phase offenbaren sich Emotionen wie Zorn und Enttäuschung. Man sucht nach der Schuld und Schuldigen und fragt sich: «Warum passiert ausgerechnet mir so etwas?» In der dritten Phase, der sogenannten Verhandlungsphase, versucht man, das Schicksal irgendwie noch abzuwenden oder so zu handeln, dass alles wieder so wird wie vorher. Häufige Gedanken dabei sind etwa «Hätte ich doch nur» oder «ich werde von jetzt an …» In der vierten Phase fallen Betroffene meist in eine immense Trauer. Sie realisieren: es gibt nichts mehr zu verhandeln, das eigene Schicksal ist unabwendbar. Erst in der fünften Phase finden sie allmählich Akzeptanz dem Geschehen gegenüber. Sie arrangieren sich, blicken nach vorne und versuchen in unserem Beispiel etwa, die starke Verbundenheit zum verstorbenen Kind auf neue, heilsame Weise im Leben zu integrieren.

Hat Trauer auch verschiedene Gesichter?

Absolut, Trauer kann so verschieden sein wie wir Menschen. Sie ist abhängig von persönlichen Umständen, aber auch kulturellen Einflüssen: Wie habe ich gelernt, mit Trauer umzugehen? Es gibt beispielsweise die «gesunde» Trauer – sie ist eine natürliche Reaktion auf ein schwerwiegendes Ereignis. Sie nimmt aber im Verlauf der Zeit an Intensität und Häufigkeit ab. Daneben gibt es die komplizierte, anhaltende Trauer. Sie trifft vor allem Menschen, die sehr stark mit ihrem Schicksal hadern es nicht akzeptieren können. Ein weiteres Beispiel ist die verzögerte Trauer, die aufgrund verschiedener Verdrängungsmechanismen teilweise erst nach Wochen, Monaten oder sogar Jahren auftritt. Die gute Nachricht: Auch bei dieser Form der Trauer ist es möglich, sie rückwirkend zu bewältigen.

«Ich allein habe es in der Hand, was ich aus meinem Leben mache. Bleibe ich in der Krise oder versuche ich, an meinem Schicksal zu wachsen?»

Janine Hächler, seit 2009 Stiftungsrätin bei Pro Pallium

Weshalb ist es wichtig, Trauer zuzulassen?

Weil die Trauer sonst zu einem chronischen Zustand werden kann, aus der man nur schwer wieder herausfindet. Trauer ist eine natürliche Reaktion, die man zulassen darf und soll – auch dann, wenn sie einem scheinbar überwältigt. Ihre Unterdrückung kann zu physischen Beschwerden wie Rückenschmerzen oder zu einer schwerwiegenden Depression führen. Als ich meine Zwillinge in der Schwangerschaft verloren hatte, da wollte ich zuerst nie wieder schwanger werden. Ich war überzeugt: Nur so kann ich sichergehen, diese Emotion nie wieder erleben zu müssen. Erst ein gesunder Trauerprozess hat mir schliesslich ermöglicht, wieder ins Leben einzusteigen und neue Freude zu finden. Denn: Ich allein habe es in der Hand, was ich aus meinem Leben mache. Bleibe ich in der Krise oder versuche ich, an meinem Schicksal zu wachsen?

Welche Strategien gibt es, um Trauer zu bewältigen?

Sehr viele. Wichtig ist vor allem, seine Gefühle zuzulassen. Wut, Trauer, Verzweiflung, Angst – sie sind völlig normal. Die einen begegnen ihnen beispielsweise mit einem Hobby, dem sie gerne nachgehen. Dann sind Gespräche mit Freundinnen, dem Partner, der Familie, Therapeuten oder in Trauergruppen sehr heilsam. Es gibt auch Online-Foren, in der sich Betroffene von Trauer austauschen. Selbstfürsorge ist ebenfalls zentral: Wie kann ich auf mich selbst schauen und mir Gutes tun? Zum Beispiel mit genügend Erholung, frischer Luft oder Sport. Wenn zum Beispiel ein Kind verstirbt, kann man seinem Todestag oder Geburtstag mit kleinen Ritualen begegnen: Etwa, in dem man einen Kuchen backt, einen Baum pflanzt oder in einem Erinnerungsbuch blättert. Hier geht es darum, die verstorbene Person in sein Leben zu integrieren – als Mami, Papi, als Paar, aber auch als Familie. Und zum Schluss ist noch eines zentral: Achtsamkeit – versuchen, eines nach dem anderen zu nehmen und sich bereits an den kleinen Dingen und Erfolgen im Alltag zu freuen. Heute ist heute, nur das zählt. Was morgen kommt, wissen wir nicht.