«Freiwilligenarbeit gibt dem System Herzlichkeit»
2020 gaben gemäss Bundesamt für Statistik über 40% der Schweizer Bevölkerung ab 15 Jahren an, sich innerhalb der letzten vier Wochen freiwillig engagiert zu haben. Doch wann spricht man eigentlich genau von Freiwilligenarbeit – und wie steht es um ihre Zukunft?

Benevol Schweiz, die Dachorganisation für Freiwilligenarbeit, fasst unter Freiwilligenarbeit sämtliche Formen unentgeltlicher, selbstbestimmter Einsätze ausserhalb der Kernfamilie zusammen. Diese werden zeitlich befristet und in Ergänzung zur bezahlten Arbeit geleistet, jedoch ohne diese zu konkurrieren. Wirft man einen Blick in den jüngsten Freiwilligen-Monitor der Schweiz, zeigt sich: Besonders viele Schweizerinnen und Schweizer engagieren sich freiwillig in Sportvereinen, gefolgt von Kulturvereinen, Spiel-, Hobby-, Freizeitvereinen, Religionsgemeinschaften und kirchenähnlichen Organisationen sowie sozialen, karitativen und gemeinnützigen Organisationen.
Thomas Hauser, Geschäftsleiter von Benevol Schweiz, betont jedoch: «Natürlich gibt es innerhalb unserer Landesgrenzen grosse Unterschiede. Zum Beispiel sind die italienisch- und französischsprachigen Teile der Schweiz mit jeweils rund 35 Prozent weniger stark freiwillig engagiert als der deutschsprachige Teil mit rund 43 Prozent.» Im Sportbereich würden sich derweil fast doppelt so viele Männer wie Frauen freiwillig engagieren, während Letztere im Bereich der informellen Freiwilligenarbeit die klare Mehrheit ausmachen würden.
Informelle und formelle Freiwilligenarbeit Formelle Freiwilligenarbeit wird innerhalb von Vereinen und Organisationen wie beispielsweise Fussballclubs oder gemeinnützige Institutionen geleistet. Als informelle Freiwilligenarbeit wird hingegen das freiwillige und unentgeltliche Engagement ausserhalb von Vereinen und Organisationen bezeichnet. Zum Beispiel in Form von Kinder hüten, Personen betreuen oder pflegen, Transporthilfe oder Mithilfe bei Anlässen und Festlichkeiten. |

Spiegel der Gesellschaft
Das freiwillige Engagement in der Schweiz blickt auf eine lange Tradition zurück. «Ohne sie wären nicht nur zahlreiche Aufgaben von öffentlichen Diensten praktisch undenkbar, sondern auch eine Vielzahl an Aktivitäten von Vereinen und anderen nichtstaatlichen Organisationen», weiss Thomas Hauser. Der 48-Jährige, der selbst ehrenamtlich als Vorstand des Kulturzentrums Kammgarn Schaffhausen tätig ist, sieht im unentgeltlichen Engagement ein Abbild unserer Gesellschaft. Denn: «Wo freiwilliges Engagement notwendig ist, dort entsteht es auch. Beispiele hierfür sind etwa der Ukrainekrieg oder die Coronakrise. Hier war die Solidarität der Bevölkerung jeweils enorm gross.» Der Wille zum freiwilligen Engagement sei also relativ konstant geblieben, auch über die vergangenen Jahrzehnte hinweg.
«Man will über einen kürzeren Zeitraum und relativ spontan Teil eines grösseren Ganzen sein, mitbestimmen und mitgestalten.»
«Einzig die Absichten dahinter haben sich womöglich etwas verändert», erklärt der Geschäftsleiter. Früher sei oft im Sinne der Gemeinschaft oder aus religiösen Motiven hinaus gehandelt worden, zum Beispiel in Form von Fronarbeit. Es sei darum gegangen, dass alle ihren Beitrag zum Funktionieren der Gesellschaft leisten – meist über einen längeren Zeitraum hinweg. Heute stünden daneben vermehrt auch andere Motive im Vordergrund: «Man will über einen kürzeren Zeitraum und relativ spontan Teil eines grösseren Ganzen sein, mitbestimmen und mitgestalten.» Wiederum andere würden einfach den Kontakt mit verschiedenen Menschen schätzen oder sich selbst ein positives Gefühl verschaffen, in dem sie etwas Gutes tun und Wertschätzung dafür erhalten.
«Diese persönlichen Motive freuen mich aber!», betont Hauser. «Denn das zeigt, dass freiwilliges Engagement nicht nur den Empfängerinnen und Empfängern etwas bringt, sondern auch umgekehrt.» Gleichzeitig seien diese modernen Bedürfnisse eine Herausforderung für Organisationen, die auf Freiwillige angewiesen sind. Denn sie müssten entsprechende Angebote bereitstellen, um weiterhin auf diese wichtige Form der Unterstützung zählen zu können.

gemeinnützigen Organisation. Am meisten Mitglieder zählen Sportclubs.
Innovative Impulse
Herausforderungen seien jedoch oftmals auch Türöffner für neue Ideen, ist Thomas Hauser überzeugt. So habe beispielsweise mit der Corona-Pandemie die Digitalisierung verstärkt Einzug
gehalten im Freiwilligen-Bereich. Die Krise habe gezeigt, dass viele Einsätze, die nicht mehr vor Ort stattfinden konnten, ins Internet verlagert wurden: «Zum Beispiel hielt man freiwillige Besuchsdienste für Betagte während des Lockdowns in Form von Online-Meetings ab.»
Sowieso entstehe aus freiwilligem Engagement generell oft Innovatives: Man tüftle an einer bestimmten Idee herum, primär aus persönlichem Interesse und ohne finanzielle Entlöhnung. Wenn diese Idee dann funktioniere, komme sie vielleicht irgendwann auf den Markt, verkaufe sich und trage so zu einer lebendigen Wirtschaft bei. «Deshalb kommen aus der Freiwilligenarbeit in meinen Augen oft innovative Impulse.»
«Wer sich aus freien Stücken für Familien mit schwerstkranken Kindern einsetzt, der bringt ein Mass an Selbstlosigkeit und Mitgefühl mit, das sich mit bezahlter Arbeit kaum erreichen lässt.»
Die Digitalisierung hat zwar zahlreiche Türen geöffnet und ganz neue Einsatzfelder für Freiwilligenarbeit geschaffen. Doch bilden nicht die persönlichen, unmittelbaren Kontakte – wie etwa im Bereich der Familienentlastung – das Herzstück des freiwilligen Engagements? «Selbstverständlich gibt es auch künftig enorm viele Bereiche, in denen der direkte Menschenkontakt unabdingbar ist», betont Hauser. Freiwilligenarbeit in der Palliative Care sei dabei so etwas wie die Königsklasse: Sie gehöre zum Herausforderndsten und Persönlichsten, aber gleichzeitig zum Wertvollsten und Wirkungsvollsten, was Menschen leisten können. Denn hier komme die intrinsische Motivation der Freiwilligen am stärksten zum Tragen: «Wer sich aus freien Stücken für Familien mit schwerstkranken Kindern einsetzt, der bringt ein Mass an Selbstlosigkeit und Mitgefühl mit, das sich mit bezahlter Arbeit kaum erreichen lässt.» Schlussendlich seien die Gründe, sich freiwillig zu engagieren, so vielfältig wie die Einsatzgebiete selbst. Und das sei laut Hauser auch gut so, denn: «Freiwilligenarbeit gibt unserem System Herzlichkeit. Sie ist nicht nur der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält – sondern auch das Fundament, das uns trägt.»