Eine besondere Freundschaft

Kreisel zum Glück

Mit ihren Besuchen ist die Freiwillige Ursula Dobler zu einer besonderen Gefährtin für Philipp Baumgartner und seine ganze Familie geworden. Was bleibt sind tiefe Dankbarkeit – und eine Freundschaft.

In Philipp Baumgartners Gesicht breitet sich ein Strahlen aus. Sein wacher Blick wandert über die eingerahmte Bildcollage, die ihm Ursula Dobler zu Beginn ihres Besuchs in Dübendorf überreicht hat. Das Bild zeigt den 8-Jährigen, wie er an seinem Lieblingskreisel wachsam die vorbeifahrenden Autos beobachtet. Es zeigt die grossen roten Schriftzeichen des gegenüberliegenden «SPAR»-Supermarkts – und es zeigt Ursula Dobler mit ihrer Hündin Paula. Heute, rund ein Jahr nach ihrem ersten Treffen mit den Baumgartners, ist die Pensionärin zum vorläufig letzten Mal im Rahmen eines Entlastungseinsatzes zu Gast bei der vierköpfigen Familie. Die Freiwillige von Pro Pallium hat den Jungen regelmässig am Freitagnachmittag abgeholt und ist mit ihm an einen seiner Lieblingsorte rund 500 Meter von seiner Wohnung entfernt spaziert. «Am grossen Kreisel haben Philipp und ich schon unzählige Stunden damit verbracht, dem fliessenden oder stockenden Verkehr mit seinen grossen und kleinen, stillen und lauten Fahrzeugen zu verfolgen», erzählt die 71-Jährige und fährt fort: «Philipp liebt das bunte Durcheinander von Velos, Autos und Lastwagen, die sich durch den Verkehr schlängeln.» Auch heute wollen Ursula Dobler und Philipp noch einmal gemeinsam zu diesem für ihn magischen Kreisel spazieren – für Ursula vorläufig zum letzten Mal.

«Das vergangene Jahr hat uns mehrfach an unsere Grenzen gebracht – manchmal auch darüber hinaus.»

Marcel Baumgartner

Für Philipps Eltern Martina und Marcel bedeuten Ursula Doblers Einsätze einen Moment zum Durchatmen. So bleibt Zeit für Organisatorisches, Wäsche waschen, Einkäufe oder ganz einfach mal eine Tasse Tee auf dem Sofa. «Wir wissen, dass unser Sohn bei Ursula in guten Händen ist, dadurch können wir auch gedanklich für einen Moment loslassen», erklärt Martina Baumgartner. Bei ihrem Sohn wurde im Alter von 2,5 Jahren die seltene Erbkrankheit Mitochondriopathie diagnostiziert. Bei Diese Krankheit betrifft die Mitochondrien in den Zellen. Sie sind für die Energieproduktion zuständig und im Fall von Philipp nur noch zu 20% funktionsfähig. Das hat zur Folge, dass Philipp zu wenig Energie hat. In den ersten sieben Lebensjahren hat sich Philipp langsam aber kontinuierlich entwickelt. Er konnte selber essen, laufen und von den meisten Wörtern die ersten Silben aussprechen.

«Anfang 2023 jedoch hat sich Philipps Zustand stark verschlechtert und wir konnten unseren Sohn nach einem Notfallaufenthalt im Spital nur mit dem Rollstuhl wieder nach Hause nehmen. Leider konnte er diesen seither nicht mehr verlassen», berichtet Marcel Baumgartner. Damit wurde das Leben der Familie nach der Diagnose quasi ein zweites Mal auf den Kopf gestellt. Epileptische Anfälle kannte die Familie bisher nicht. Jetzt gehören sie zu ihrem Alltag. Auch das Essen sei für den Jungen zu anstrengend geworden, deshalb wird er seit einigen Monaten zusätzlich künstlich über eine Magensonde ernährt. «Philipp braucht rund um die Uhr Betreuung. Besonders das vergangene Jahr hat uns mehrfach an unsere Grenzen gebracht – manchmal auch darüber hinaus.»

Wettlauf gegen die Zeit


Über mehrere Monate war die Familie einer fortwährenden Mehrfachbelastung ausgesetzt: «Nach unserer Rückkehr aus dem Kinderspital, als wir noch keine Hilfsmittel wie etwa einen Dusch-Stuhl hatten, mussten wir Philipp oft tragen», erklärt seine Mutter. Für sie bedeutete die Pflege ihres Sohnes eine grosse körperliche Beanspruchung. Hinzu kamen ein immenser administrativer Aufwand, zahlreiche Spital- und Therapiebesuche und – mit der Sorge um ihren Sohn – eine immerwährende emotionale Belastung. All dies mussten die Eltern stets mit ihren beruflichen Verpflichtungen abstimmen – Martina Baumgartner arbeitet Teilzeit als Sachbearbeiterin Buchhaltung im Kinderspital, ihr Mann Marcel ist Sozialpädagoge, ebenfalls mit reduziertem Pensum. «Wir rennen permanent der Zeit hinterher. Für uns wäre es am einfachsten, wenn ein Tag 30 Stunden hätte», so Marcel Baumgartner. Nicht zuletzt deshalb sei Ursula Dobler ein Segen für die Familie gewesen, halten die beiden fest. Doch wie kam es überhaupt zu ihren Besuchen?

Spazieren, Puzzeln, Reden


Das Kinderspital habe die Familie, welche zweimal pro Woche Pflegeunterstützung durch die Kinder-Spitex erhält, auf den Entlastungsdienst von Pro Pallium aufmerksam gemacht. Schnell konnte die Stiftung mit Ursula Dobler auch eine geeignete Freiwillige in der Region finden. «Beim ersten Treffen wussten wir schon nach kurzer Zeit, dass sie genau die richtige Person ist. Sie ist enorm empathisch, offen und passt sich komplett den Bedürfnissen unseres Sohnes an.» Auch für die Freiwillige stimmte die Chemie: «Besonders beeindruckt war ich von der wahnsinnigen Harmonie, die der Familie innewohnte und von ihrer liebevoll humorvollen Art, mit den Herausforderungen im Alltag umzugehen.» So wurden aus einem ersten Treffen regelmässige Besuche, die oftmals nach bewährtem Schema abliefen, wie die Freiwillige berichtet: «Ich komme meist nach dem Mittag und hole Philipp für einen gemeinsam Spaziergang zum grossen Kreisel ab. Nach etwa einer Stunde kommen wir zurück und widmen uns gemeinsam einem Puzzle, besonders gerne mag er dasjenige mit dem bunten Bauernhof-Sujet.» Die Tösstalerin hatte auch schon ihre Hündin Paula auf Besuchen mit dabei, nicht nur zur Freude von Philipp, sondern auch seiner Schwester Evelyne. Die 10-Jährige durfte Ursula Dobler bereits auf einen gemeinsamen Hundespaziergang begleiten – seither ist der zottelige Vierbeiner immer wieder Gesprächsthema am Familientisch.

«Diese Form des Engagements gibt mir sehr viel»

Ursula Dobler, Freiwillige von Pro Pallium

Nach Spaziergang und Puzzle bleibe oft auch Zeit für einen gemeinsamen Kaffee mit den Eltern. «Wir sprechen über aktuelle Hürden oder Anforderungen des Alltags, manchmal aber auch über ganz andere Dinge wie die Arbeit und Ferienpläne», erzählt die Freiwillige, welche ihre Besuche bei Philipp und den Austausch mit seinen Eltern ebenfalls geniesst. 15 Jahre lang hatte die vierfache Mutter einen integrativen Kindergarten geleitet. Schnell war für sie nach ihrer Pensionierung klar, dass sie sich weiterhin für Kinder mit besonderen Bedürfnissen einsetzen möchte. «Diese Form des Engagements gibt mir sehr viel und ich gehe immer mit einem guten Gefühl wieder nach Hause», berichtet sie. So auch heute, obwohl die Pensionärin ihrem vorläufig letzten Einsatz bei den Baumgartners im Vorfeld wehmütig entgegenblickte. Aufgrund des erhöhten Betreuungsaufwandes von Philipp erhält die Familie nun dreimal wöchentlich Unterstützung durch eine IV-Assistenzperson, darunter auch jeden Freitagnachmittag. Da Ursula Dobler wegen anderweitiger Verpflichtungen ihren Entlastungsbesuch nur an diesem Tag hätte abhalten können, kommt das Engagement von Pro Pallium bei der vierköpfigen Familie vorläufig zu einem Ende.

«Wir sind sehr traurig über diesen Abschied», sagt Martina Baumgartner, welche die Freiwillige tief ins Herz geschlossen hat. «Ursula ist fast wie ein Familienmitglied und eine Art Grossmami für Philipp und Evelyne.» Dank ihr habe sich eine Art Entspannung in unserer Familie ausgebreitet. «Umso schwerer fällt uns allen der heutige Abschied.» Ursula Dobler jedoch beschwichtigt mit einem Lächeln: Bestimmt sei dies nicht ihr letzter Besuch gewesen. «Ich komme wieder, nächstes Mal halt einfach als Freundin.