«Ideen brauchen ein Umfeld, in dem sie wachsen können»
Ein persönliches Schicksal, eine klare Vision und der Glaube an die Kraft der Gemeinschaft: Stiftungsgründerin Christiane von May über die Anfänge von Pro Pallium, ihre eigene Wandlung – und warum es mehrere Hände braucht, damit eine Idee zu etwas Grossem werden kann.

Frau von May, wir sitzen hier im Innenhof des Generationenhauses in Bern. Wie geht es Ihnen gerade?
Mir geht es grundsätzlich gut, ich bin voll im AHV-Alter angekommen und habe ganz neue Interessen entwickelt. Zum Beispiel Skizzieren, Sketchen, Nature Journaling – hier versuche ich noch etwas Fuss zu fassen. Kurzum: Ich geniesse diese neue Lebensphase, die sich eher abseits vom sozialen Engagement bewegt und mehr auf Begegnungen mit Menschen ausgerichtet ist. Bald ziehe ich auch in eine kleinere Wohnung, damit ich meine Energie auf andere, wichtigere Dinge wie etwa die Kunst, lenken kann. Leider ist mein Bruder vor einigen Wochen unvermittelt an einem Herzinfarkt gestorben. Die eigene Endlichkeit, für die ich durch meine Vergangenheit ohnehin ein tiefes Bewusstsein habe, ist dadurch jüngst wieder etwas stärker in den Vordergrund gerückt.
«Wenn ich nur genug Unterstützung und Begleitung erhalte, wird vieles erträglicher.»
Sie sprechen die Vergangenheit an: Vor 20 Jahren haben Sie Pro Pallium aufgrund eines persönlichen Schicksals gegründet. Können Sie uns dazu mehr erzählen?
In den 90er-Jahren lebte ich mit meiner Familie in Berlin und nahm 1992 die zweijährige Andrea als Pflegetochter auf. Sie litt damals bereits an Leukämie und verstarb ein Jahr später bei uns zu Hause. Es war eine sehr prägende Zeit. Wenn ich mir vorstelle, dass Andrea heute 35 Jahre alt wäre … unglaublich, wie die Zeit vergeht. In dieser Zeit der Krankheit und des Abschied Nehmens fühlte ich mich auf vielen Seiten zu wenig begleitet, zu wenig verstanden. Zum Beispiel wollte ich vom behandelnden Team immer wissen, wie Andrea versterben würde, aber niemand konnte und wollte mir dies beantworten. Dabei hatte ich immer das Gefühl: Wenn ich nur genug Unterstützung und Begleitung erhalte, wird vieles erträglicher. Ein Blick ins Nachbarland und meine ursprüngliche Heimat Schweiz zeigte mir bald darauf: Hierzulande steckte die Pädiatrische Palliative Care noch in den sprichwörtlichen Kinderschuhen. Ich konnte dies fast nicht glauben. Das musste sich ändern! Und so entschied ich im Jahr 2004, die Stiftung Pro Pallium mit dem Ziel zu gründen, ein stationäres Kinderhospiz zu eröffnen. Mein Gedanke war, die Angehörigen von schwerstkranken Kindern in dieser unglaublich schwierigen Lebensphase zu unterstützen.

Zu einem stationären Hospiz ist es aber nie gekommen. Weshalb?
Ganz zu Beginn gaben wir eine Studie an der Universität Zürich in Auftrag: Wir wollten herausfinden, was überhaupt die konkreten Bedürfnisse von Familien mit schwerstkranken Kindern sind. In welchen Bereichen kann man sie am meisten entlasten und unterstützen? Als das Studienresultat kam, war ich persönlich überrascht – und ehrlich gesagt auch überfordert. Denn es zeigte sich klar, dass die Mehrheit der Betroffenen ihr schwerstkrankes Kind möglichst zu Hause pflegen und betreuen will – in einem gewohnten, vertrauten Umfeld. So folgten wir diesem Bedürfnis und bauten Schritt für Schritt eine kleine Organisation auf, die sich auf die Entlastung von Betroffenen im Alltag – zu Hause – spezialisierte. Pro Pallium war geboren, 2005 unterzeichnete ich offiziell die Stiftungsurkunde.
Welche Hürden galt es in den ersten Stiftungsjahren zu meistern?
Die erste grosse Hürde war: Akzeptieren, dass es kein stationäres Hospiz geben würde. Das war gar nicht so einfach, denn ich wusste zu Beginn nicht, wie ich einen ambulanten Entlastungsdienst überhaupt in der Öffentlichkeit bekanntmachen könnte. Die zweite Hürde: Lernen, wie man Menschen und eine Organisation führt. Ich machte parallel eine mehrjährige Coaching-Ausbildung in Führung und Personalmanagement. Wir starteten mit nur drei Personen und führten bald eine erste Freiwilligen-Rekrutierungsrunde durch. Mit einer Handvoll Freiwilligen und einer neu eingestellten Koordinatorin eröffneten wir zunächst die Region Zürich – und so bauten wir das Freiwilligennetz immer weiter aus.
«Ich wollte bewusst loslassen – damit die nächste Generation mit neuen Ideen und Gedanken Platz bekommt.»
17 Jahre lang haben Sie die Stiftung begleitet, bis 2023 als Stiftungspräsidentin. Welche Momente bleiben Ihnen besonders in Erinnerung?
Zum Beispiel der Umzug meines kleinen Büros in Bern in grössere Räumlichkeiten in Olten, wo künftig der Geschäftssitz der Stiftung sein sollte. Ich packte all meine Büro-Habseligkeiten in den VW-Bus meiner Nichte Fränzi und wir fuhren an einem Samstagmorgen los. Ein schöner Auftakt zur Vergrösserung der Stiftung. Und dann ein trauriger Moment: 2011 kam Roger, ein Kollege der damaligen Geschäftsführerin, ins Team – ein wunderbarer Mensch. Leider starb er kurz darauf völlig unerwartet an einem Herzinfarkt, was uns alle sehr getroffen hat.
Ein schönes Erlebnis war 2018 meine Nomination zur «Heldin des Alltags». Meine Kolleginnen hatten mich heimlich angemeldet. Ich war zuerst skeptisch, mich so als Mensch in den Fokus rücken zu lassen – aber es wurde ein wunderbarer Abend. Und ich wurde sogar zur «Heldin des Alltags» gekürt! Und schliesslich: meine Entscheidung während der Coronazeit, mein Amt mit 67 Jahren abzugeben. Ich wollte bewusst loslassen – damit die nächste Generation mit neuen Ideen und Gedanken Platz bekommt.
Wie haben Sie die Entwicklung der Pädiatrischen Palliative Care in der Schweiz seither wahrgenommen?
Ich finde den Weg spannend. Wir hofften, durch unsere Arbeit mehr Öffentlichkeit zu erhalten – und mehr Gehör bei den Gesundheitsbehörden. Dass es endlich klare und stabile Finanzierungsmodelle für Betroffene gibt, so wie es auch in Deutschland mit dem Hospizgesetz in die richtige Richtung geht. Wir haben mit Pro Pallium bereits viel erreicht, dennoch hinkt die Schweiz im Vergleich zu ihren Nachbarländern immer noch stark hinterher. Nur wenige Kantone haben offizielle PPC-Stellen etabliert, es fehlt eine flächendeckende Absicherung. Zudem lastet hierzulande die Care-Arbeit nach wie vor stark auf den Schultern von Frauen – politisch bewegt sich also noch zu wenig.
«Ideen brauchen ein Umfeld, in dem sie wachsen können.»
Was hat die Zeit mit Pro Pallium in Ihrem Leben bewirkt – persönlich wie beruflich?
Persönlich habe ich enorm viel gewonnen. Ich bin selbstbewusster, hartnäckiger und widerstandsfähiger geworden – und vor allem geduldiger. Dabei bin ich eigentlich alles andere als geduldig! Ich habe gelernt, Demut vor dem Leben zu haben. Und dass man vieles erreichen kann, wenn man wirklich dafür einsteht – nicht alles, aber doch mehr, als man manchmal denkt. Ganz zentral war für mich die Erfahrung: Allein schafft man nichts. Ideen brauchen ein Umfeld, in dem sie wachsen können. Erst durch die Gruppe, durch gemeinsames Handeln, bekommen sie Gewicht und Wirkung. Und etwas hat mich besonders berührt: der Moment, als ich erkannt habe, dass ich das Geld, das ich geerbt habe, in etwas Sinnvolles investieren kann – in etwas, das dadurch zu leben beginnt. Das war wunderschön. Vielleicht das Schönste überhaupt.
Was wünschen Sie Pro Pallium für die kommenden 20 Jahre?
(Schmunzelt) In Berlin habe ich ein Lied kennengelernt – eine Alternative zu «Happy Birthday» –, das mich sehr berührt hat. Es geht so (singt): «Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen, Gesundheit und Frohsinn sei auch mit dabei.» Ich habe es für mich etwas ergänzt: Gesundheit steht für ausreichend Spendeneinnahmen, Frohsinn für den Humor, den man nie verlieren sollte. Dieses Lied hat einfach mehr Substanz – und genau das wünsche ich Pro Pallium für die nächsten 20 Jahre: Substanz, Zuversicht und ein starkes Miteinander auf allen Wegen.